piwik no script img

BuchtipI bin Inländer!

■ Cem Özdemir, grüner Bundestagsabgeordneter, autobiographisch

Was steckt hinter der Fassade Cem Özdemir, dem ersten Bundestagsabgeordneten türkischer Herkunft? Die Medien haben seit seiner Wahl am 16. Oktober 1994 zum Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen versucht, ihn aus den verschiedensten Blickwinkeln zu durchleuchten. Nun veröffentlicht Cem Özdemir nach etwa drei Jahren Mandatsträgerschaft mit 31 Jahren ein Buch über sein Leben: „Ich bin Inländer – Ein anatolischer Schwabe im Bundestag“. „Anatolisch“, weil seine Eltern Einwanderer aus der Türkei sind, und „Schwabe“, weil er im schwäbischen Bad Urach geboren und aufgewachsen ist. Vielleicht hätte er seinem Buch ja den Titel „I bin Inländer“ geben sollen. „Inländer“ ist er seit seinem 18. Lebensjahr, sogar mit deutschem Paß.

Die Person Cem Özdemir als Sohn von einer von vielen „Gastarbeiterfamilien“ steht exemplarisch für den Mißstand der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die mit ihrer multikulturellen Einwanderungsrealität nicht klarkommt. Auch als Abgeordneter im Deutschen Bundestag mußte sich der anatolische Schwabe Fragen anhören wie: „Ja, Herr Özdemir, was sind Sie jetzt? Sind Sie mehr Türke oder mehr Deutscher?“

Özdemir ist ein typisches Einwandererkind. Viele werden beim Lesen überrascht sein, daß der erste Bundestagsabgeordneten türkischer Herkunft Sohn einer Bauern- und nicht einer Akademikerfamilie ist. Auch würde niemand annehmen, das dieser wegen schlechter Noten in der Schule (vor allem im Fach Deutsch) gerade mal die Hauptschule schaffte. Erst später arbeitete er sich zum Diplomsozialpädagogen hoch.

Özdemirs Biographie zeigt, daß das scheinbar Unmögliche doch möglich werden kann, vorausgesetzt, man hat den nötigen Willen und vielleicht ein bißchen Glück. Ob in nicht allzu ferner Zukunft Deutschland einen Bundeskanzler nichtdeutscher Herkunft haben wird, das hängt allein von der politischen Emanzipation der „neuen Inländer“ und parallel dazu von der Öffnung dieser Republik gegenüber ihren Minderheiten ab. Cem Özdemirs Autobiographie ist eine Aufforderung an alle diejenigen, die orientierungslos und verängstigt sind, ihre passive Haltung zu überwinden und mehr gesellschaftliches Verantwortungsbewußtsein und Courage zum Mitmischen in der Politik zu zeigen.

Die vielschichtige Autobiographie ist auch eine Chronologie der jüngeren Migrationsgeschichte Deutschlands. Und der aktive Weg eines grünen, anatolischen, schwäbischen Politikers. Die Sprache des Buches trägt der Interkulturalität Cem Özdemirs Rechnung: Zwischen den deutschen Wörtern sind türkische, englische und andere Wörter eingebaut, andere kommen im „Gastarbeiterdeutsch“ und Kauderwelsch daher. Halil Can

Cem Özdemir: „Ich bin Inländer – Ein anatolischer Schwabe im Bundestag“. München, Juli 1997

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen