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Bitte, ein Velotaxi!

Seit April fahren dreißig Velotaxis auf drei festen Routen durch Berlin. Die Dreiräder sind Touristenattraktion und bunte Tupfer im Stadtbild  ■ Von Günter Ermlich

Sklavenarbeit? „Quatsch, ich mach's doch freiwillig“, kontert die drahtige Anika (19), „und werde dafür entlohnt.“ Mit viel Muskelkraft kutschiert sie Einheimische und Fremde in einem Velotaxi durch Berlin. „Man ist an der frischen Luft. Das ist besser, als zu kellnern oder am Fließband zu stehen.“ Für Anika ein prima Übergangsjob zwischen Abitur und Studium. „Hauptsache, die Gäste sind nicht zu dick“, sagt sie. Zwei Leute hinten in der Kabine und dazu noch Gegenwind, da müsse sie ordentlich strampeln.

Seit April fahren dreißig Velotaxis durch Berlin. Sieben Tage die Woche, auf drei festen Routen: von Unter den Linden zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz, den Kurfürstendamm rauf und runter und vom Europacenter durch den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor. Kunden sind Touristen mit Lust auf eine ungewöhnliche Sightseeingtour und Geschäftsleute, die schnell ein paar Meter vorbei am Stau in der City zurücklegen wollen.

Ludger Matuszewski, der Initiator und Geschäftsführer des Velotaxi-Unternehmens, hatte während eines mehrmonatigen Lateinamerika-Aufenthalts die Colectivos in Lima und La Paz kennengelernt: Sammeltaxis auf festen Linien, mit festen Tarifen, aber ohne feste Haltestellen. Diese Beförderungsidee gefiel dem früheren Mitarbeiter im Projektmanagement bei der Daimler-Benz-Tochter debis so gut, daß er sie „in den Berliner Verkehr einbeziehen“ wollte. Die Vorlaufphase für die Entwicklung des Fahrzeugs, für eine Machbarkeitsstudie, für das Dekra-Gutachten zur Verkehrssicherheit dauerte zwei Jahre. Fast wäre der Betrieb an der Straßenverkehrsordnung gescheitert: Doch kurzerhand erteilte der Berliner Verkehrssenat eine Ausnahmegenehmigung, „entgegen der Vorschrift des 21 Abs.3 StVO bis zu zwei Personen, die sieben Jahre und älter sind, auf ... mehrspurigen Fahrrädern (Velotaxis) mitzunehmen“.

Bis auf die Sitzanordnung – der Fahrer vorne, die Gefahrenen dahinter in der Kabine – hat das Velotaxi nichts mit chinesischen Rikschas gemein. Berliner und Brandenburger Firmen, Industriedesigner und Fahrradbauer, entwickelten das moderne Dreirad zur umweltfreundlichen Menschenbeförderung. Mit 70 Kilo ist es fast ein Leichtgewicht, hat fünf Gänge, Differentialgetriebe, eine plexiglasüberdachte Kabine – und kostet rund 10.000 Mark das Stück.

Die Dreiräder sind heute eine kleine Touristenattraktion, bunte Tupfer im Stadtbild, orangenrot und kanariengelb, die Kabinen als mobile Reklameflächen für eine Modefirma oder einen Elektronikkonzern. Neben den Haupteinnahmen aus dieser Werbung finanziert sich das Velotaxi-Unternehmen durch Veranstaltungen wie Hochzeiten, Jubiläen, Firmen-Events. Die Kartei enthält 150 Fahrer – ein Drittel Studenten, ein Drittel Ex-Arbeitslose, ein Drittel Leute in Nebenbeschäftigung –, die für fünf Mark Radleihgebühr pro Tag auf eigene Rechnung strampeln. Im Schnitt würden die FahrerInnen 120 Mark in sechs bis sieben Stunden verdienen, weiß Matuszewski.

Im Oktober ist Kehraus. Dann wollen Matuszewski und seine sieben Projekt-Mitarbeiter eine „seriöse Auswertung“ der ersten Saison vornehmen. Nachahmer, die das Velotaxi-Konzept im Franchise-System übernehmen möchten, gibt es in Münster, Dresden, Hamburg, München. Auch Paris und Toulouse, Mailand, Rom und Florenz haben Interesse bekundet.

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