: „Von zwei Übeln wähle ich keines“
Die Wahl in der Zweidrittelgesellschaft: Vier, die partout nicht wählen wollen – wie rund 30 Prozent der Hamburger Stimmberechtigten ■ Von Heike Dierbach
Stell' dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin. Vorausichtlich jedeR dritte Wahlberechtigte in Hamburg wird am Sonntag auf ihre Stimmabgabe verzichten. 30,4 Prozent interessierte die Bürgerschaftswahl 1993 nicht die Bohne. Vor allem in den sozial schwächeren Stadtteilen bezweifeln offenbar viele, daß das Rathaus ein Tathaus ist: Von Altona über St. Georg bis Billstedt und Harburg war die Wahlbeteiligung am geringsten.
„Es gibt bundesweit einen klaren Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Wahlbeteiligung“erläutert Asmus Rösler, Sprecher des Landeswahlamtsleiters. St. Pauli und Steinwerder bildeten mit rund 50 Prozent Wahlbeteiligung die Schlußlichter vor vier Jahren, während in Volksdorf 82,2 Prozent ihr Kreuzchen machten. „Die Quote der Nichtwähler kann als Signal an die Parteien verstanden werden“, so das Statistische Landesamt in seiner Analyse der Hamburger Wahlen vom September 1993.
Neben dem Portemonnaie spielt auch das Lebensalter eine Rolle: Am höchsten war die Wahlbeteiligung 1993 bei den über 60jährigen mit 75,5 Prozent, am geringsten bei den 18- bis 25jährigen mit 61,4 Prozent. Seit den 70er Jahren ist die Wahlbeteiligung in Hamburg stetig gefallen. Fanden 1974 noch über 80 Prozent der HanseatInnen den Weg zur Urne, wurde 1991 mit 66,1 Prozent der historische Tiefstand erreicht, die vorige Bürgerschaftswahl vor vier Jahren konnte noch einmal drei Prozent mehr WählerInnen motivieren. „Die Gründe für Wahlabstinenz lassen sich nicht eindeutig festlegen“, meint Rösler, „aber das geht hin bis zu gezieltem Protest.“
Mit vier HamburgerInnen sprach die taz über ihre Motive zur Stimmverweigerung
Monika A. (27), Studentin:
„Ich fühle mich von den PolitikerInnen überhaupt nicht repräsentiert. Ob jetzt Krista Sager oder Jürgen Hunke mit Voscherau im Rathaus sitzt, ist doch völlig egal. Für mich ist das hier keine Demokratie, wo korrupte PolikerInnen nach der Maxime von Wirtschaftsinteressen entscheiden. Die Erfahrungen beim letzten Castor-Transport mit diesem Aufmarsch der Staatsgewalt haben mich da wieder voll bestätigt. Wahrscheinlich geht es vielen Menschen hier noch nicht schlecht genug, daß sie das Wahl-Theater noch mitmachen. Da finde ich es effektiver, sich an Demos wie gegen die NPD zu beteiligen. Ich würde den Rechten auch gerne auf die Mütze hauen, aber das trau' ich mich nicht. Natürlich weiß ich, daß die PolitikerInnen mein Nicht-Wählen nicht besonders kratzt, aber für mich persönlich hat es eine Berechtigung.“
Karsten J. (40), Altenpfleger
Im Parlamentarismus setzen die Entscheidungen nicht dort an, wo sie nötig wären: Vor Ort, in den Stadtteilen. Die Abwicklung des Hafenkrankenhauses ist dafür ein gutes Beispiel, wo gegen den Willen der örtlichen Bevölkerung entschieden wurde. Ich war Gründungsmitglied bei den Grünen und im Landesvorstand in Baden-Württemberg, aber ich habe gemerkt, daß Realpolitik blind macht für die Probleme der normalen Menschen. Ich glaube, daß Wahlen schaden, weil sie das System legitimieren und von echten Problemlösungen ablenken. Vielleicht würde ich unter der Bedingung wählen, daß man beispielsweise die Vertreter jederzeit wieder abwählen könnte, wenn sie ihre Aufträge nicht erfüllen. Für grob fahrlässige Fehler müßten sie mit ihrem Privatvermögen haften. Dann könnte Kohl gleich Sozialhilfe beantragen!
Tim F. (29), Autonomer
„Für mich gibt's da nichts zu wählen. Die Freiheit, sein Kreuzchen zu machen, darf man nicht verwechseln mit der Freiheit als ethischem Wert. Ich bin gegen den BRD-Staat, und der wird sich nicht abwählen lassen. Ich glaube, viele Menschen machen sich Illusionen, daß Wählen ein politischer Akt sei. Wahlen dienen bloß dazu, dem System einen Persil-Schein auszustellen. Eine revolutionäre Partei als Teil einer Massenbewegung, die würde ich vielleicht wählen.Früher habe ich die Friedensliste gewählt. Aber allen bestehenden Parteien, auch der PDS, geht es doch bloß ums Mitregieren. Wählen sollte man lieber zwischen den verschiedenen Formen des Widerstands. Eine menschlichere Gesellschaft läßt sich nur im Kampf gegen die bestehende Regierungsform durchsetzen. Wahlen sind zur Zeit nicht Teil dieses Kampfes.“
Valerie P. (24), Studentin
„Ich fahre am Wahl-Wochenende lieber zur Schienenaktion am AKW Krümmel. Das ist für mich wirksames politisches Handeln und ein Versuch, eine wirklich oppositionelle Öffentlichkeit zu schaffen. Innerhalb unseres parlamentarischen Systems kann mich keine Partei überzeugen. Natürlich ist Nicht-Wählen ambivalent, weil es die Rechten stärken könnte. Aber ich finde es sinnvoller, publik zu machen, wieviel rechtes Gedankengut sich inzwischen in der CDU wiederfindet. Oder auch bei der SPD mit ihrer Law-and-Order-Kampagne. Früher habe ich die Grünen gewählt, aber die haben ihre Konsequenz verloren, gerade in ökologischen Fragen. Jetzt ist das für mich eine bürgerliche Partei mit alternativer Bemäntelung. Von zwei Übeln wähle ich keines, nicht das kleinere.
Fotos: St. Kugler / H. Scholz
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