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Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

■ Auch für die Steuerreform gilt Sepp Herbergers bewährtes Motto. Nach dem Scheitern im Vermittlungsausschuß gehen die gegenseitigen Schuldzuweisungen nach dem bekannten Muster weiter – bis uns die Bundestagswahl erlöst

Bonn (taz) – Kaum hat sich die Grabplatte über das nun fast ein Jahr währende Hickhack um die Steuerreform gesenkt, wird sie schon wieder gelüftet. SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping kündigte gestern eine Initiative an, wonach die Steuerschlupflöcher geschlossen werden sollen. Zudem werde in der kommenden Woche der Weg für eine Senkung der Lohnnebenkosten frei gemacht.

Nach der Steuerreform ist also vor der Steuerreform. Nur daß von Woche zu Woche weniger von dem ursprünglichen Jahrhundertwerk übrigbleibt. Aus dem Felsbrocken ist ein Kiesel geworden. Um ihren eigenen guten Willen zu betonen, übten sich die Parteien gestern wieder in den obligatorischen Schuldzuweisungen an den politischen Gegner.

Das gestrige Klagen der Politiker gleicht den Stellungnahmen aus einer Zeit, als zum erstenmal die dringende Notwendigkeit einer Steuerreform parteiübergreifend formuliert wurde. Rudolf Scharping etwa sagte: „Wir alle bedauern, daß es nicht zur Senkung der Steuern für Familien und untere Einkommen kommt.“ Kanzler Kohl meinte: „In einem Augenblick dramatischer Veränderungen in der Welt darf sich niemand notwendigen Reformen verweigern.“ Und die Fraktionssprecherin der Grünen, Kerstin Müller, beklagte, es werde zu einer weiteren Steigerung der Arbeitslosigkeit kommen, da die Lohnnebenkosten steigen.

Am glaubwürdigsten hatte sich in der letzten Woche noch CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble dafür eingesetzt, daß es wenigstens zu einer Senkung der Lohnnebenkosten kommt. Sein Vorschlag, die Gegenfinanzierung durch eine Erhöhung von Mehrwertsteuer und Benzinsteuer vorzunehmen, entsprach zwar den Vorstellungen der SPD, scheiterte aber an CSU und FDP. Auch die Bündnisgrünen waren über ihren Schatten gesprungen und hatten einer Mehrwertsteuererhöhung zugestimmt. Nur die SPD bewegt sich seit Monaten so gut wie nicht. Sie agiert nach der Vorgabe: Die Steuerreform kommt nur dann, wenn die Regierung genau das macht, was wir wollen.

Die Zeit des Handelns ist nun vorbei. Die Wahlstrategien wurden schon gestern sichtbar. Die CDU will die Wähler von der Blockadehaltung der SPD und ihrer eigenen Handlungsfähigkeit überzeugen. Schäuble zählte gestern die Reformen der Koalition aus den letzten Monaten auf: Senkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Lockerung beim Kündigungsschutz, Krankenversicherungsreform, die Abschaffung der Vermögensteuer. Die Botschaft der CDU lautet: Alles, was ohne die Zustimmung der SPD im Bundesrat geht, setzen wir durch.

Die SPD baut darauf, die Schwäche der Koalition ausnützen zu können. Die Grüne Kerstin Müller brachte die Meinung der Genossen gestern auf den Punkt: Schäuble sei durch die Ablehnung seines jüngsten Vorschlags bis auf die Knochen blamiert und der Kanzler durch seine unschlüssige Haltung geschwächt.

Dazu droht der Koalition neues Ungemach. Die Senkung des Soli-Zuschlags ist immer noch nicht gegenfinanziert. Und die geplante Rentenreform ist ohne die Erhöhung der Mehrwertsteuer kaum zu finanzieren. Entsprechend schlecht ist die Stimmung. Als „desolat“ wurde sie bei der gestrigen Fraktionssitzung empfunden. Ein CDU-Mann war sogar dafür, dem SPD-Vorschlag zur Senkung der Lohnnebenkosten zu folgen. Und der Abgeordnete Peter Altmaier sagte: „Der Blockadevorwurf an die SPD ist zwar berechtigt, aber unglaubwürdig, weil wir uns selbst blockieren.“ Markus Franz

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