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Von Vektoren und Hyperbeln

■ Im kommenden Jahr soll in Hamburg der Mathematikunterricht reformiert werden, denn: Mathe bildet, nicht nur beim Aufspüren von Fehlern

„Machen Sie sich keine Sorgen über ihre Schwierigkeiten in Mathematik, ich kann Ihnen versichern, meine sind noch größer“, schrieb Albert Einstein in den 20er Jahren. Die SchülerInnen des Mathe-Leistungskurses der 12. Klasse am Albert-Schweitzer Gymnasium wird das wenig trösten. Für sie stehen an diesem Dienstag zwei Stunden Mathematik auf dem Stundenplan. Zunächst wird eine Klausur besprochen. Die meisten hatten Probleme mit der Zeit und sind nicht fertig geworden. „Kann man das nur so ausrechnen, wie Sie das gemacht haben?“fragt ein Mädchen. Hajo Löffler, Mathematiklehrer an dem Ohlsdorfer Gymnasium, läßt sich ihren Rechenweg erläutern. „Nein, sie können das auch mit Betragsstrichen schreiben“, antwortet er.

Im Mathematikunterricht der sieben Jungen und acht Mädchen wird sich bald einiges verändern, zumindest, wenn es nach Werner Renz geht: Der Fachreferent für Mathematik am Hamburger Amt für Schule erklärt, „Was unterrichtet wird, ist weniger die Frage, als wie dies geschieht.“Reformpläne für den Mathematikunterricht liegen auf den Tischen der Behörde zur internen Abstimmung bereit. Am 1. Februar 1998 werde voraussichtlich der neue Rahmenplan Mathematik für das Gymnasium Sekundarstufe I in Kraft treten, sagt Renz.

Auch die SchülerInnen des Mathe-Leistungskurses bei Hajo Löfler könnten von diesen Plänen profitieren. Im Moment jedoch müssen sie erst einmal folgende Aufgabe lösen: Gesucht wird eine Zahl aus zehn verschiedenen Ziffern von 0 bis 9, die durch alle Zahlen von 2 bis 9 teilbar ist. Die SchülerInnen beginnen sofort zu überlegen. Diese Art von Denksport scheint ihnen Spaß zu machen.

So oder ähnlich stellt sich auch Werner Renz die Arbeit mit den SchülerInnen vor. Die jungen Menschen sollten stärker dazu angeregt werden, Lösungswege eigenständig zu erdenken, sagt er. Diese Art des Unterrichtens lasse mehr Freiraum zur kreativen intellektuellen Betätigung. „Jugendliche nehmen das, was ihnen in der Schule geboten wird, nicht mehr einfach hin, sie sind kritisch und stellen das Angebot des Lehrers in Frage“, meint der Fachreferent.

Deshalb müsse der Lehrer als Moderator fungieren und die Diskussion der SchülerInnen untereinander anregen – zu Themen des Unterrichts wohlgemerkt. Außerdem solle der Prozeß der Lösungsfindung besser nachvollzogen werden können. Wenn nötig, müsse eben eine ausführliche Analyse der Ergebnisse im nachhinein erfolgen. „Wodurch ist ein möglicher Fehler entstanden, welche Annahmen könnten dazu geführt haben“, alle diese Fragen sollten erörtert und geklärt werden, sagt Werner Renz.

Fehleranalyse gehört auch für die LeistungskursteilnehmerInnen zur Aufgabenstellung: Einen „Fehler“macht am heutigen Dienstag in der 5. Stunde der Taschenrechner, aber auch darauf muß man erstmal kommen. Weil nur mit elf Ziffern gerechnet wird, rundet der Rechner ungenau und kommt zu falschen Ergebnissen. Beim Nachprüfen mit einem genaueren Rechner stimmt das Ergebnis plötzlich nicht mehr.

Mit herkömmlichen Unterrichtsinhalten einer Sekundarstufe I hat die Suche nach der zehnstelligen, teilbaren Zahl nichts mehr zu tun. In anderen Stunden ist von Vektoren und Funktionen, vom Differenzieren, von Ableitungen, Hyperbelscharen oder hinreichenden Bedingungen die Rede. Hajo Löffler beschreibt das Problem: Als Mathematiklehrer gerate man leicht in das Dilemma zwischen prüfungsrelevantem Lernstoff, der irgendwann zwangsläufig abgefragt werde und ungewöhnlicheren, aber interessanteren Inhalten.

Dennoch ist Werner Renz der Überzeugung, das neue Unterrichtsmodell sei auch auf den Pflichtlernstoff anwendbar. Die Reformpläne könnten sich jedoch für Pauker als didaktisches Kunststück erweisen.

„Im Grunde werden an die LehrerInnen just die gleichen Anforderungen gestellt, wie an die Schüler“, beschreibt der Fachreferent die Situation, „sie müssen zumindest teilweise selbst herausfinden, wie die Vorhaben im konkreten Einzelfall am besten umzusetzen sind.“Um die LehrerInnen dabei zu unterstützen, findet im Mai kommenden Jahres in Hamburg zum zweiten Mal eine Fachtagung für MathematiklehrerInnen statt, die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch geben wird.

Bis dahin muß Hajo Löffler eigene Mittel und Wege finden, um seinen Schülern Spaß an der Mathematik zu vermitteln und sie gleichzeitig durch das Abitur zu führen. Für heute jedenfalls haben die LeistungskursteilnehmerInnen genug getüftelt: Mehrere Zahlen, die alle geforderten Kriterien erfüllen, sind in Teamarbeit herausgefunden worden.

„Einige haben plötzlich eine Idee, andere gehen systematisch mehrere Fälle durch“, sagt Hajo Löffler. Der Lehrer ist überrascht: Mit so vielen Lösungen hatte er nicht gerechnet. Am Ende der Stunde stellen einige SchülerInnen noch ausführlich ihren Lösungsweg dar, wobei die Hauptschwierigkeit in der Argumentation liegt – „weshalb an dieser Stelle ausgerechnet dieser ganz bestimmte Schritt folgt“, will eine Schülerin wissen, „man hätte doch auch...“Ihr Mitschüler muß seinen Rechenweg verteidigen.

Für viele ist und bleibt Mathematik jedoch ein unrühmliches und leidliches Kapitel in der schulischen Laufbahn. Da kann schon mal die Frage auftauchen, inwieweit Mathe als Pflichtfach bis zur 13. Klasse überhaupt notwendig und sinnvoll ist. „Die Reform wird eine stärkere Beschäftigung mit Inhalten bringen, die im eigentlichen Sinne allgemeinbildend sind“, sagt Werner Renz. Nicht die Kenntnis von Vektorrechnung oder Stochastik, sondern der Prozeß des Aufgabenlösens an sich, wirke sich fachübergreifend aus. Die Fähigkeit, Strukturen zu erkennen, analytisches Denken und das Aufspüren von Fehlern seien, so Renz, in jedem anderen Fach oder im späteren Beruf ebenso wichtig wie in der Mathematik. Vanessa Ogle

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