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Gibt's ein Leben mit dem Borkenkäfer?

Das Baumsterben im Bayerischen Wald ist Europas größtes botanisches Experiment  ■ Von Philipp Maußhardt

Tot, katzetot, mausetot, käfertot. Oh du wunderschöner deutscher Wald! Selbst im Tod gibt er uns noch ein Farbenspiel: „Es ist ein rötliches Grau“, sagt der Forstwirt und stellvertretende Leiter des Nationalparks, Michael Held. Am Morgen wirkte es noch eher bläulich. Von einer Kuppe hinter Sankt Oswald sieht man herrlich die ganze Gipfelregion vom Lusen bis zum Rachel. Ja, doch, ein klein wenig Grün ist auch noch dabei. Aber ansonsten lebt hier im Bayerischen Wald oberhalb von 800 Metern kaum noch ein Baum. Mitten im Nationalpark vollzieht sich das größte Flächensterben Europas. Mehr als 1.000 Hektar des Bergfichtenwaldes sind in den vergangenen zehn Jahren abgestorben, in diesem Sommer kamen wieder über 300 Hektar dazu.

Der Wald steht grün, die Jagd geht gut, schwer ist das Korn geraten. *

Tritt man näher, dann sieht man auch das Silber. Es kommt von den Flechten, die sich auf den toten Ästen noch einen schönen Lebensabend machen, bevor das Holz im nächsten Winter bricht und auf dem Boden vermodert. Manche der Stämme standen hier 150 Jahre oder länger, mächtig und stolz und zur Freude der Waldbauern. Dann kam Ips typographus. Er ist nur vier Millimeter groß, der Borkenkäfer, und er stinkt, daß einem Wildschwein graust. Mit seinen winzigen Zähnen bohrt er sich ein Löchlein in die Rinde, macht es sich gemütlich und hat in einem Jahr schon über 50.000 noch kleinere Borkenkäferkinderlein gezeugt. Irgendwann gibt jede Fichte auf und fällt.

Es blühet im Walde tief drinnen / die blaue Blume fein.

Aber das weiß jedes Bauernkind, denn der Borkenkäfer ist so alt wie der Wald. Neu ist, daß man im Nationalpark Bayerischer Wald nichts gegen ihn unternimmt. Denn wenn man befallene Bäume fällen würde, die Rinde schälen und verbrennen oder sogar ein wenig Insektenvernichtungsmittel auf die Stämme sprühte, Ips typographus, der in seiner häufigsten Ausprägung auch den Namen „Buchdrucker“ führt, hätte gar keine Chance. So aber hat er längst auch gesunde Bäume befallen, die nicht durch Wassermangel, versauerten Boden oder kohlenmonoxidhaltige Luft geschwächt waren.

Da ist der Wald so kirchestill / kein Lüftchen mag sich regen.

Von Kapitulation will Professor Anton Fischer von der forstwissenschaftlichen Fakultät an der Maximilians-Universität München nicht sprechen. Der Botaniker untersucht seit 14 Jahren im Nationalpark die Entwicklung von Pflanzenwachstum auf Waldflächen, deren Bäume nach einem Sturm zu Boden gingen und dem Borkenkäfer zum Fraß fielen. Seit die bayerische Landesregierung 1992 beschloß, im Nationalparkgebiet nicht mehr in den Naturkreislauf einzugreifen, entstand auf dem Höhenzug zwischen Lusen und Rachel Europas größtes Experimentierfeld. „Möglicherweise ist das, was man heute im Nationalpark sieht, etwas, was es ohne den Menschen auch gegeben hätte. Wir wissen es schlicht nicht, weil es diese großen natürlichen Ökosysteme nicht mehr gibt. Was dort jetzt stirbt, ist ja nicht der Wald, sondern Bäume, viele Bäume“, sagt Botaniker Fischer.

Waldespracht, neu gemacht, nach des Winters Nacht.

„Man kann dieser Entwicklung auch etwas Positives abgewinnen: Der Wald verändert sich von einer stark vom Menschen beeinflußten nun zu einer natürlichen Situation. Der Wald wird in Zukunft in der höher gelegenen Zone vielleicht nicht mehr so geschlossen aussehen, wie wir uns einen Wald vorstellen, sondern eher einer offenen, einer parkähnlichen Landschaft gleichen. Aber das ist wahrscheinlich auch das Natürliche.“

Wird dem Weltenbrand zum Raub / Berg und Wald und Heide, / wird das Wirtshaus auch zu Staub, / schwarzes Brett und Kreide.

Diese gelassene Wissenschaftlichkeit ist für die Bewohner des Bayerischen Waldes, die sich stolz „wir Waldler“ nennen, kaum zu ertragen. Jahrhundertelang haben sie vom Wald gelebt, haben ihn gerodet, um Platz für die Höfe zu schaffen, haben ihn gefällt, um Heizmaterial für die Glasbläser zu gewinnen, und genutzt, um Wild zu jagen und Beeren zu sammeln. „Jetzt schaue ich aus dem Fenster, und mir wird schlecht.“ Henriette Braumandl wohnt in Waldhäuser, und von ihrem Draxlerhof sind es wenige hundert Meter bis dorthin, wo nur noch Astgerippe in den Himmel kragen. Den Waldlern von Waldhäuser und den umliegenden Orten ist es völlig unverständlich, daß man nichts gegen das Baumsterben unternimmt.

Oh schöner grüner Wald, / du meiner Lust und Wehen andächt'ger Aufenthalt.

Als vor nicht langer Zeit der Umweltausschuß des bayerischen Landtages durch das Dorf fuhr, hängten sie schwarzen Trauerflor in die Fenster. Sie können aber auch rabiater werden: „Die Mitarbeiter des Nationalparks leben gefährlich“, sagt Ludwig Geier, zweiter Vorsitzender der „Bürgerbewegung Nationalparkbetroffener“. Vor zwei Jahren wurde das Haus der Nationalparkwacht durch einen Brandanschlag zerstört. Der Leiter des Parks, Hans Bibelriether, erhielt Morddrohungen. Weil sie sich in ihren Rechten eingeschränkt fühlen, nennen die Gegner den Nationalpark nur noch den „Nazi-Park“. Bibelriether ist der ausgemachte Feind der Waldler. „Wenn man ihm eine Weile zuhört“, sagt Henriette Braumandl empört, „dann überzeugt er einen auch noch davon, daß es richtig ist, was er macht.“ Deswegen hört sie ihm nicht mehr zu. Bibelriether, Bauernsohn aus Franken und seit Eröffnung des Parks 1970 dessen Leiter, hat erst vor kurzem in der Frankfurter Rundschau festgestellt: „Die Städter sind heute viel aufgeschlossener gegenüber einer Natur, die sich ungestört entfaltet.“ Das hatte die Waldler ins Herz getroffen.

Ich geh' durch einen grasgrünen Wald und höre die Vöglein singen.

An einer etwas tiefer gelegenen Stelle des 24.000 Hektar großen Waldgebietes, dort, wo sich noch Buchen und Birken unter die Fichte mischen, hat der Natur- Journalist Horst Stern vor Jahren schon einen „Seelenpfad“ eingerichtet. Der hölzerne Steg führt über abgestorbene Stämme, vorbei an entwurzelten Fichten, aber auch zu jungen, zartgrün nachgewachsenen Pflanzen. Vogelbeere ist darunter, kleine Fichtlein, Farne und Gräser. Horst Stern hat auf mehrere Holztafeln Texte geschrieben, die von den Waldlern bislang kaum einer gelesen hat: „Der nur auf Mehrung seiner materiellen Güter bedachte Mensch wird von denkenswerten Gedanken verlassen.“

Selbst der bodenständige stellvertretende Nationalpark-Leiter Michael Held schweift ab ins Metaphysische, wenn er die toten Bäume und darunter die nachwachsende Natur sieht: „Wir Deutschen haben große Probleme damit, etwas zu lassen. Wir wollen immer etwas tun. Daß man die Natur einfach sich selbst überläßt, verkraften hier viele nicht.“

Waldeslust, Waldeslust, / Oh wie einsam schlägt die Brust

Vor gut einer Woche haben die Waldler eine Resolution verfaßt, die sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber vorlegen wollen. „Ein kleines Volk kämpft um seine Heimat“, haben sie den Forderungskatalog überschrieben, der nach mehr Wegen für Radler und Reiter und nach einer massiven Bekämpfung des Borkenkäfers verlangt. Die Wald- Gallier fühlen sich „aus der eigenen Heimat ausgeschlossen“ und erwähnen nur ungern, daß die jährlich 1,3 Millionen Besucher rund 70 Millionen Mark hierlassen und die bayerische Landesregierung in diesem Jahr nochmals etwa 30 Millionen Mark für Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung stellte. Alle Dörfer im Gebiet sind herausgeputzt, die Gehwege mit Kopfsteinpflaster belegt, die Rathäuser renoviert. Kaum eine andere ländliche Region Deutschlands ist so hergerichtet und boomt. Doch wenn am 22. Oktober Edmund Stoiber sich ein eigenes Bild machen will vom Zustand des Parks und von der Gemütslage der Waldler, „muß er sich warm anziehen“, sagt ein Bewohner von Waldhäuser: „Die Stimmung ist aggressiv.“

Im Wald und auf der Heide / da sucht ich meine Freude.

Dabei wird am Rande des Parks, wo der Wald an private Grundstücke angrenzt, intensiv nach von Borkenkäfern befallenen Bäumen gefahndet und sofort die Säge angesetzt. Es ist wohl weniger der materielle Schaden, den die Waldler befürchten, „es schmerzt vielmehr im Herzen“, weiß der katholische Pfarrer von Neuschönau, Kajetan Steinbeißer. Zusammen mit anderen Geistlichen hat er diesen Sommer „theologische Führungen“ durch den sterbenden Wald angeboten und sich damit den Vorwurf eingehandelt, er stecke mit der Nationalpark-Verwaltung unter einer Decke. „Staunen – klagen – danken“, hatte der evangelische Pfarrer von Grafeau seine Waldbegehung im August überschrieben und unter toten Fichten gepredigt: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Der Herr ist mein Hirte.“ (Psalm 23) Eine Beschwerde beim Bischof war die Folge. „Da gibt's nichts zu staunen“, sagt Protestler Ludwig Geier, „das ist nur ein riesiger Saustall.“

Und als ich wiederkam zu ihr / verdorret war der Baum. / Ein andere Liebster stand bei ihr / Jawohl es war ein Traum.

Könnte Ludwig Geier seinen Urgroßvater noch fragen, der würde ihm wundersame Dinge erzählen: Schon im vergangenen Jahrhundert starben große Fichtenflächen im Bayerischen Wald wegen des Borkenkäfers ab. Längst sind sich die Wissenschaftler einig darüber, daß Luftverschmutzung allenfalls eine der Ursachen für die geschwächten Baumbestände ist.

„Um ehrlich zu sein: Wir wissen es nicht, warum der Borkenkäfer in manchen Jahren so massenhaft auftritt“, sagt Professor Anton Fischer: „Das hat niemand erwartet. Es gibt viele verschiedene plausible Gründe. Man kann nicht sagen: Die Luft ist dreckig, deswegen sterben die Bäume, das ist zu einfach.“

Fischer bittet um etwas Geduld, jedenfalls für eine Zeit, die im Leben eines Waldes nur Sekunden sind: „In 100 Jahren wird man in Bayern stolz darauf sein, was man hier für ein weltweit herausragendes Waldgebiet hat.“

* aus deutschen Volksliedern

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