: Krankenkassen im Konkurrenzkampf
■ Durch die Gesundheitsreform wurden nicht nur die Zuzahlungen für Arzneien erhöht: Die gesetzlichen Kassen mußten ihr Leistungsangebot einschränken und buhlen nun um Mitglieder. Ein Leitfaden durch die neue
Die „3. Stufe der Gesundheitsreform“ ist in Kraft. Das merken die meisten schon in der Apotheke. Je nach Größe der Verpackung sind jetzt 9, 11 oder 13 Mark als Zuzahlung für Arzneien fällig, wo bisher nur 4 bis 8 Mark zu zahlen waren. Heil- und Hilfsmittel sind ebenfalls teurer geworden. Beim Zahnersatz senkte man die Zuschüsse der Kassen von 50 auf 45 Prozent. Ab Januar soll es sogar nur noch feste Zuschußbeträge geben, so daß bei teuren Prothesen der Preis für die PatientInnen noch höher ausfallen kann. Am härtesten trifft es die Jungen: Bei Versicherten, die nach 1978 geboren sind, bezahlt die Kasse Zahnersatz nur noch in Ausnahmefällen.
Großzügigere Befreiungsregeln
Großzügiger als früher sind dagegen die Befreiungsregeln. Wer im Westen weniger als 20.496 Mark brutto im Jahr verdient, kann sich von der Zuzahlungspflicht entbinden lassen. Ledige Ossis sind bereits mit 17.472 Mark dabei. Für Verheiratete und Eltern sind die Freibeträge höher. Für alle gesetzlich Versicherten gibt es außerdem eine „Belastungsgrenze“. Mehr als zwei Prozent des Einkommens muß niemand jährlich zuzahlen, für chronisch Kranke liegt die Schwelle bei einem Prozent. Alle Quittungen sollte man aufheben, um sein Geld bei der Kasse zurückholen zu können. Wer weiß denn schon im Januar, ob er nicht im Dezember krank wird und die „Schmerzgrenze“ überschreitet?
Auch bei der Abrechnung gibt es neue Methoden. Kieferorthopädische Eingriffe müssen jetzt meist per „Kostenerstattung“ bezahlt werden. Die Ärztin kriegt ihr Geld direkt vom Patienten, der es sich dann von der Kasse erstatten läßt. Dieses Zahlungsverfahren kann jeder Kassenpatient auch bei allen anderen Arztbesuchen wählen. Doch wer das tut, „muß damit rechnen, erheblich höhere Behandlungskosten aus eigener Tasche zahlen zu müssen“, warnt die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV). Denn die Kassen übernehmen von der Rechnung nur soviel, wie auch bei der Behandlung per Chipkarte fällig wären. Was der Arzt dem Patienten darüber hinaus aufschwätzt, muß dieser selbst zahlen.
Verlockend scheint hingegen die Beitragsrückzahlung, die ursprünglich nur bei Privatversicherungen üblich war. Seit Juli dürfen die Regelung auch die Ersatz- und Ortskrankenkassen einführen. Sie sieht vor, Mitglieder zu belohnen, die ein ganzes Jahr lang keine kassenärztlichen Leistungen genutzt haben, von Ausnahmen wie Schwangerschaft oder Vorsorgetests abgesehen. Auf Antrag können sie einen (oder mehrere) Monatsbeiträge zurückerhalten.
In den letzten Jahren haben einzelne gesetzliche Kassen die Rückzahlung in einem fünfjährigen Modellversuch eingeführt, darunter die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) in Hamburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Im August dieses Jahres traf die erste Welle von Rückzahlungsanträgen ein. Immerhin jedes sechste Mitglied verlangte Geld zurück. Der Bundesverband der Ortskrankenkassen gab daraufhin bekannt, daß keine weiteren Landesverbände das Verfahren einführen werden. „Man könnte auch die Satzungen ändern und schneller Schluß machen“, deutet Rainer Eikel, stellvertretender Pressesprecher des AOK-Bundesverbandes, ein vorzeitiges Ende des Modellversuchs an. Er glaubt nicht, daß sich „privatversicherungsähnliche Elemente“ bei den Ortskrankenkassen durchsetzen. In den Verwaltungsräten gebe es „sehr starke Bedenken der Versichertenvertreter.“
Die Kritiker stört vor allem, daß die Rückzahlungen das Solidarprinzip aushöhlen. Der Vorteil der einzelnen gesunden Mitglieder wird zum Nachteil für die Gesamtheit. Dies trifft vor allem diejenigen, die auf teure Behandlungen nicht verzichten können, etwa SeniorInnen, Krebs- oder Aids-PatientInnen. Die Versuchung ist groß, teure Versicherte loszuwerden. Vor einiger Zeit, so Helga Kuhn von der AgV, verschickten einzelne Ortskrankenkassen an ihre „Risikogruppen“ Briefe, in denen sie günstigere KonkurrentInnen heiß empfahlen.
Um solche Verdrängungen zu vermeiden, wurde mit der „freien Kassenwahl“ ein „Risikostrukturausgleich“ eingeführt. Alle Kassen zahlen in einen Topf ein, dessen Inhalt dann umverteilt wird. Wer ungewöhnlich viele krankheitsanfällige Mitglieder hat, erhält mehr als die Konkurrentin, in der junge, gutverdienende BeitragszahlerInnen dominieren.
Um die Beiträge niedrig zu halten, haben die Kassen in den letzten Jahren auch ihre Angebote aneinander angleichen müssen. „95 Prozent aller Leistungen sind für alle Kassen identisch“, sagt Pressesprecherin Kirsten Ulmer von der Berliner AOK. „Sparpakete“, „Kostendämpfung“ und „Beitragsentlastungsgesetz“ haben unentgeltliche Fitneßkurse wegrasiert und auch den Rehabilitationsbereich beschnitten. Damit wurden auch gleich Arbeitsplätze eingespart. Im niedersächsischen Bad Eilsen mußte dieser Tage die dritte Kurklinik schließen!
Dehnbare Paragraphen
Einzelne Großzügigkeiten sind weiterhin möglich, vor allem wegen der Gummi-Paragraphen im „Sozialgesetzbuch V“, das die Krankenversicherung regelt. Unterderhand erfährt man, daß manche Kassen sogar noch Präventionsmaßnahmen anbieten. Ob und welche naturheilkundlichen und anderen Alternativmethoden in Zukunft über die Kasse abgerechnet werden können, ist dagegen noch unklar (siehe Seite 21).
Auf festerem Boden bewegt sich die Techniker-Krankenkasse (TK), die lange für ihre großzügige „Übernahme“ von Psychotherapien gerühmt wurde – bis vor einiger Zeit die Kassenärztliche Bundesvereinigung gegen das Verfahren klagte und erst mal recht bekam. Inzwischen ist dank eines Vergleichs fast alles wieder beim alten. „In ihrem Kern steht die alte TK-Regelung für die Psychotherapien wieder“, erklärt Markus Jochem, Pressesprecher der TK.
Seit Juli steht den Kassen theoretisch ein neuer Weg offen, um spezielle Wünsche der PatientInnen zu erfüllen. Sie dürfen zusätzlich zu den „Pflichtleistungen“ auch „Wahlleistungen“ anbieten, aber: Die Kosten für die Zusatzangebote darf eine Kasse nicht aus ihrem normalen Topf nehmen. Sie muß sich das Geld über Beitragserhöhungen ausschließlich bei den Versicherten holen, also ohne den sonst üblichen Arbeitgeberanteil von fünfzig Prozent. Das hat sich bislang aber noch keine Krankenkasse getraut. Matthias Fink
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