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Denken ins Unreine

■ Nadja Klinger beschäftigt sich in ihrem ersten Buch mit Muttersein, Politik, Familie und dem ganzen Rest und sagt: "Ich ziehe einen Kreis"

Die aus dem Osten der neuen deutschen Republik stammende Journalistin Nadja Klinger hat sich in den letzten zwei Jahren mit ihren „Schlagloch“-Kolumnen in der taz so etwas wie eine Fangemeinde geschaffen. Es schien, als sei der Titel für sie kreiert. Sie schreibt schnell, trägt dick auf, verläßt einen Gedanken so plötzlich, wie sie ihn gehabt hat, und baut als besondere Federung ein Augenzwinkern ein, das noch der bittersten Erkenntnis Leichtigkeit verleiht. Ihre Themen umkreisen tägliche Beobachtungen: um das Verschwinden des realen Omalebens in dem Seehoferschen Pflegestufenmodell, um die Top- Frauen, die die Frauen verraten, oder um das Sorgerecht für Väter, das die Frauen weiter entmachtet.

Mit ihrem ersten Buch hat Nadja Klinger nun das Sujet gewechselt. „Ich ziehe einen Kreis“ sind autobiographische Geschichten. Der Titel folgt einem Kinderspiel: Eines der Kinder ist der Jäger, doch keiner weiß, wer. Jeder täuscht jeden, jeder mißtraut jedem. Alle rennen durcheinander. Nur wenn es einem gelingt, mit einem kleinen Stöckchen im letzten Moment auf dem Boden einen Kreis um sich zu ziehen, ist man unberührbar und somit gerettet. Dieses Jägerspiel, das wie eine Metapher auf den Realsozialismus anmutet, bildet das Grundelement des Buches. Nadja Klinger, Mutter zweier Kinder, zieht schreibend einen solchen Bannkreis, entrückt sich der Welt, rekapituliert Szenen aus der eigenen Kindheit und das Leben der Eltern und Großeltern.

Zunächst jedoch ist sie mit der Abschottung vor der Außenwelt beschäftigt, vor der Sozialarbeiterin, die nach der Geburt des Kindes nach dem Rechten sehen will, vor der Kinderkrankenschwester, die das Kind im Krankenhaus heimlich zufüttert, und vor dem Jungvater, der sich als Kindserzeuger im Innern des Bannkreises einnisten möchte. Entstanden ist die Sehnsucht nach dem intakten Kreis der Liebe und Fürsorge nach dem frühen Tod des Vaters, mit dem das kleinbürgerlich-wohlsituierte Vorstadtleben dieser „vollständigen Familie“ zu Ende ging: Die Mutter, bislang eine praktische Frau mit praktischer Frisur, die immer auf Stöckelschuhen zielsicher und aufrecht durchs Leben gegangen ist, verliert ihren Halt. Der Garten, bislang das Zentrum der familiären Sorge, der unter dem terroristischen Blick der Nachbarschaft gehegt und gepflegt wurde, verkommt. Schließlich ziehen Mutter und Tochter in die Stadt zurück, wo die Mutter erneut heiratet und einen neuen Namen annimmt.

Die Männerwelt (Arbeit und Politik) ist in diesen Geschichten intakt: Der Großvater, ein Widerstandskämpfer, der im KZ gesessen hat, kann stundenlang mit dem Vater, der im Ministerrat der DDR arbeitet, diskutieren. Die Frauenwelt hingegen ist gestört: Der Wirkungsbereich der Großmutter (Überlebenssicherung der Familie) verliert im Zuge des Aufbaus der DDR an Bedeutung, doch zu ihrer Tochter, der Mutter der Ich- Erzählerin, welche schon als Kind den weiblichen Herrschaftsbereich (die Speisekammer) nicht vor den hungrigen Brüdern zu verteidigen vermochte, kommt keine Beziehung zustande.

Die unerfüllte Sehnsucht, die die Ich-Erzählerin umtreibt (und die zu der Unterteilung der Geschichten nach Generationen geführt hat), ist die Sehnsucht „nach einer Familie, die Vergangenheit und zugleich Zukunft hat“. „Ich ziehe einen Kreis“ ist eine Variation auf das Hauptthema der autobiographischen (west)deutschen Literatur der Nachkriegsgeneration: die Zerstörung familiärer Bindungen. Auch wenn die Geschichten mehrheitlich von ganz anderen Dingen erzählen, sind sie im Kern ein „Versuch über das Verhältnis der Geschlechter“: Auf die vollständig getrennten Geschlechterwelten der Großelterngeneration folgte die „Familie auf Zeit“ der Elterngeneration. Die junge Mutter – im Jahr 7 nach der Wiedervereinigung – imaginiert sich zu Beginn und am Ende des Buches mit ihren beiden Töchtern als einsame Kämpferin in einem feministisch anmutenden Bannkreis. In der Geburtsszene etwa bekommen die Frauen Namen: die Hebamme heißt Helga, die Freundin, die sie begleitet, heißt Katja. Der ebenfalls präsente Vater des zu gebärenden Kindes jedoch bleibt namenlos: „Elsas Vater“. Er bleibt außen vor und freut sich, daß die Geburt so schnell gegangen ist: So wird er (auch ein Vertreter der intakten Männerwelt) rechtzeitig zu den „Tagesthemen“ zu Hause sein.

Dieser Kern der Geschichten ist kaschiert in ausgewalzten Reflektionen und weitschweifigen Erzählpassagen. Zwar finden sich auch prägnante Beobachtungen, die an die Kolumne erinnern – etwa die kleine Passage über praktische Frisuren („Ich glaube, daß praktische Frisuren sich nur für Frauen eignen, die sicher sind, daß sie bei ihrer Meinung bleiben, daß sie nicht morgens aufwachen, und eine ganz andere sein wollen als die, die sie gestern waren“). Doch oft verläuft sich die Erzählung in mutwillig verlangsamten, bedeutungsschwangeren Beschreibungen: „Ich wußte nicht, was ich in Leipzig sollte. Die Stadt enttäuschte mich. Sie erfüllte meine Erwartungen nicht, und das, obwohl diese Erwartungen ungenau waren, schattenhaft...“ Die Retardierung, die Nadja Klinger wie absichtsvoll eingeführt hat, wird nicht durch Verdichtung gesättigt. So erscheint das Denken ins Unreine nicht als Kunstgriff, sondern als Unfertigkeit: „Ich ziehe einen Kreis“, lautet der Titel des Buches, doch auf der ersten Seite steht: „Ich ziehe keinen Kreis, ich kreise in Geschichten.“ Auch gut, aber warum dann der Titel? Marie-Luise Knott

Nadja Klinger: „Ich ziehe einen Kreis“. Alexander Fest Verlag, Berlin 1997, 160 Seiten, 34 DM

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