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Jetzt, jetzt oder nie

„Gesichter der Geschichte“: Das Theaterhaus Jena kündigt ein Revolutionsspektakel an, das dann aber irgendwie doch keines ist. Trotzdem gibt es eine veritable „Schloßvisite“, eine Premiere von Georg Büchners „Dantons Tod“, und ein ganzes Dorf ist auch zu Gast  ■ Von Petra Kohse

Wenn es Herbst ist in Deutschland, ist es auch Herbst in Thüringen. Und damit insbesondere in Jena, denn Jena im Herbst ist angenehm. Klein, aber doch nicht überschaubar ist die Stadt voller Laubbäume und gründerzeitlichem Fachwerk, Buchhandlungen und Bäckereien. Natürlich ist Jena auch voller Schiller, der hier einst Professor war. Es gibt Schillerpassagen, Schillerdies und Schillerdas, selbst eine „Schillerkirche“ war irgendwem die Sache wert.

Direkt neben Schillers Gartenhaus und also am Schillergäßchen liegt denn auch das Theater, das „Theaterhaus“ heißt und eigentlich nur noch ein Theaterfragment ist, seit 1986 der Zuschauerraum abgerissen und nie mehr aufgebaut wurde. Trotzdem kam es hier 1991 zu einem Neubeginn, als ortsansässige Theaterfreunde und eine Truppe aus der Berliner Ernst Busch Schule in quasi kollektiver Struktur einen Spielbetrieb erfanden, bei dem sowohl die Künstler als auch das Publikum gemeinsam auf der Bühne Platz haben.

Mittlerweile ist das Theaterhaus Jena längst bundesweit ein Begriff und wird für sein Engagement (Provinz! Widrige Umstände!) ebenso gepriesen wie für sein Ensemblespiel und seine dramaturgischen Einfälle. In der letzten Spielzeit gab es zum Beispiel eine Revue zum Thema Betriebsküche, die durch Reportagen Alexander Osangs angeregt wurde. Überhaupt werden gern Texte gefunden oder zusammengestellt, die Produktionen heißen dann „Orpheus. Record. Mysteries“, „Go Ost – Go Westen“ oder „Novalis. Glück auf – und davon“.

Im Rahmen der Festwochen Thüringer Herbst hatte am letzten Freitag nun „Gesichter der Geschichte“ Premiere, eine Veranstaltung, die aus einer Besichtigung des etwa 25 Kilometer entfernten Schloß Hummelshain und der anschließenden Premiere von „Dantons Tod“ im Theaterhaus bestand und inklusive Fahr- und Pausenzeiten rund fünf Stunden dauerte. Das ist nicht viel für etwas, das man für ein Revolutionsspektakel hält.

Hummelshain ist ein prächtiger Bau im Renaissancestil, der 1880 bis 1885 errichtet wurde, erst den Herzögen von Sachsen-Altenburg, dann einem Verleger gehörte und – Gesichter der Geschichte – unter den Nazis kranke Zwangsarbeiter einer nahe gelegenen Flugzeugwerft beherbergte. Nach 1945 zog Jugend hier ein, erst verwaiste, danach schwererziehbare. Seit 1992 steht das Schloß jetzt leer und vergammelt von oben. Das Dach ist undicht und darf neuen Denkmalschutzverordnungen entsprechend nur mit Naturschiefer gedeckt werden, der aber zu teuer ist. Also tropft es rein, und die Leute vom Theaterhaus haben an den entsprechenden Stellen Gläser mit Goldfischen aufgestellt.

Überhaupt ist die „Schloßvisite“ eine Angelegenheit, in der sichtbar Liebe steckt. Angela Hausheer und Florian Frenzel, die das Publikum in zwei Gruppen durch das sonst nicht mehr zugängliche Gebäude führen, bieten allerhand kultur- und sozialgeschichtliches Wissen auf, reichen später auch Sekt und Jägermeister und lassen am Ende ein 20er-Jahre- Paar zu Salonjazz von der einen Seite in den Festsaal hereintanzen, während sich von der anderen FDJ-Turner nähern. Leider verwischen sich Choreographie und Timing bei diesem Finale zu einem gewühlten Irgendwie, was noch leiderer kein Mißgeschick, sondern ein Symptom ist. Denn bei aller Liebe im Detail – als theatralischer Akt gewinnt die Schloßführung keine Kontur. Mit dem Stock in der Hand und Pomade im Haar versucht Frenzel die Tatsache, daß ein Raum im Laufe der Jahre seine Funktion wechseln kann, zum „Rätsel“ aufzuplustern, während Hausheer in jedem Raum eine andere Rolle spielt: mal die harte Erzieherin, mal die romantische Gräfin.

Distanzierungsversuche, die aber nicht verdecken, daß beide im Grunde Schloßaktivisten sind und die Visite offenbar als Rettungsmaßnahme (Besucher unseres Theaters, schaut auf dieses Schloß!) gedacht ist. Falls es die Idee gegeben haben mag, als Einstimmung auf die „Danton“-Inszenierung (in welcher Weise auch immer) einen örtlichen Palast zu stürmen – herausgekommen ist schiere Heimatkunde.

Dazu paßt, daß auf dem Rückweg Pausenbrote verteilt werden, die man dankbar nimmt. Erst kauen alle still, dann albert der Künstler Daniel Schürer mit den zerknüllten Tüten herum. Daniel Schürer ist 32 Jahre alt und gewissermaßen der Bonustrack des „Gesichter der Geschichte“- Abends. Nicht als Bus-Animateur zwar, aber als Kommunikator.

Denn Daniel Schürer hat ein Klotürkritzeleienprojekt initiiert und an den Innenseiten der Theaterhaus-Toilettentüren Wandtafeln angebracht sowie Kreide bereitgelegt. Alle drei Tage sollen nun die Tafeln vom Herrenklo mit denen vom Damenklo vertauscht werden, das Ergebnis wird nach sechs Tagen fotografiert und bestimmt ausgestellt. Aber: So ausgeklügelt ist das Intime und Authentische nicht mehr zu haben. Denn während in Damenklos sonst Sexberatungssprüche stehen, wurde in Jena gleich eine nackte, auf dem Klo sitzende Frau gezeichnet – die Blicke der männlichen Klogäste ironisch vorwegnehmend und bedienend, das Kloprojekt umstandslos erledigend.

Mehr Witz und Bestand hat da schon Schürers Idee, alle 500 Bewohner des niedersächsischen Dorfes Heersum zu fotografieren und die kleinen Hochformatfarbabzüge an verschiedenen Orten in Gruppen aufzustellen. Auf diese Weise war ganz Heersum bei der Premiere von „Dantons Tod“ zu Gast, auf einer eigenen Tribüne, jeweils zu dritt auf einem Stuhl – Gesichter der Geschichte. Volk. Statisten im postrevolutionären Konflikt in Büchners Stück einerseits, Stellvertreter eines heutigen Publikums andererseits.

Gewissermaßen selbst nur als Statisten zeigt der Gastregisseur Hermann Schein dann allerdings auch die Figuren in „Dantons Tod“: die ehemaligen Revolutionäre und ihre Frauen. Alle treten in Nadelstreifen auf (Kostüme: Kathrin Krumbein), Nadelbestreifung bis zu den Socken – das Programmheft stellt einen Bezug zur Lieblingskleidung der Dalton-Brüder her, Wildwestgangster vom Ende des 19. Jahrhunderts. Aber: Die da im Theaterhaus in einem heruntergekommenen Ballsaal unter Resten von Kronleuchtern (Bühne: Annette Braun) zu leisem Jazz Karten spielen, Champagner trinken, flirten, sich träge schlagen und wieder vertragen, haben nicht nur jede ideelle, sondern auch jede kriminelle Energie schon lange verloren.

Weder hat der nicht nur revolutions-, sondern überhaupt lebensmüde Danton hier das Charisma des Outcasts, noch vermag Robespierre von der notwendigen Institutionalisierung der Revolution zu überzeugen. Dantons Frage „Was ist denn das, was in uns hurt, lügt, stiehlt, mordet?“ wird in dieser Inszenierung zum Leitmotiv: Nicht im eigenen Auftrag handeln die einzelnen, sondern als Marionetten ihres jeweiligen Prinzips. Der Revolution folgt zum Machterhalt die Reaktion, das intelligente Individuum zerstört sich selbst und kann beiseite geräumt werden.

Das ist eine sehr desillusionierte, sehr zeitgemäße Auffassung des Stoffes, die Schein in holzschnittartiger Deutlichkeit mit wenigen Mitteln und wenig Personal nicht analysiert, aber vorzeigt. Was amüsant sein könnte, hier aber nicht ist.

Das anfängliche Gesellschaftstableau ist das einzige der ganzen Inszenierung. Ansonsten gibt es nur Einzelarrangements. Wer spricht, steht starr und blickt ins Publikum, wer nicht spricht, steht auch starr und blickt den Sprechenden an. Eine merkwürdige Atmosphäre entsteht, eine Mischung aus soldatisch und somnambul, aus Robespierre, den Andreas Guglielmetti mechanisch als Verlautbarungszwerg spielt, und Danton, der bei Albrecht Hirche zum schnutenziehenden Lustknaben gerät. Er posiert in Unterhosen und Reitstiefeln, läßt das lange, graue Haar wirr ins Gesicht hängen, und wenn nichts mehr hilft, plumpst er zu Boden. Wenn Robespierre nichts mehr zu sagen hat, geht er ab.

„Jetzt, jetzt oder nie“ ist am Theaterhaus außen plakatiert – innen heißt es eher: Nie, nie und schon gar nicht jetzt. Eine Haltung, die man sich gern vorwerfen läßt, aber nicht so gern im analogen Stil. Denn nirgendwo steht, daß Kraftlosigkeit auch kraftlos gezeigt werden muß. Schloßvisite, Ausstellung, Theaterpremiere – dem „Gesichter der Geschichte“- Abend mangelt es nicht an Einfällen, aber an Stringenz, nicht an Gestaltungsvermögen, aber an Distanz und Lockerheit. Es wird ernsthaft gepusselt – wenn Herbst ist in Thüringen, gerät die Revolution zur Handarbeit.

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