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Raus aus der Uni

■ Professoren mäkeln, Bonn gibt kein Geld: Jetzt hat das Projekt Gutenberg bei Bertelsmann und AOL eine neue Heimat gefunden

Jeder Umzug beweist erneut, wie schwer an den Worten in gewichtigen Bänden zu tragen ist. Auch die deutsche Dependance des Projekts Gutenberg (gutenberg.aol.de/) ist dieser Tage umgezogen. Mit leichterem Gepäck jedoch. Gunter Hille, Initiator und Betreuer des Projekts, steckte einfach eine CD-ROM in die Tasche.

In den vergangenen Jahren gewährten die Hamburger Informatiker der Sammlung Gastrecht. Doch die Texte können aus dem Netz abgerufen werden, das ist der Sinn der Projekts, und der Universität schien das Datenaufkommen schließlich zu hoch. Nach einer Zwischenstation in Hilles Firma hat das Archiv beim deutschen Ableger von America Online (Bertelsmann-AOL) ein Unterkommen gefunden.

In den Schranken des Urheberrechts

Der Online-Dienst tritt als Sponsor auf, indem er die Kosten für die Hardware und die Netzanbindung übernimmt. Im Gegenzug erscheint neuerdings buchbezogene Werbung auf den Seiten des Projekts. Die Werbeeinnahmen sollen geteilt werden, und Hille hofft, mit seiner Hälfte eine Stelle für die Projektbetreuung finanzieren zu können. AOL rechnet mit einer imagefördernden Wirkung des Engagements. Außerdem soll die Attraktivität des eigenen Angebots gesteigert werden, indem der Zugriff auf das Archiv für die Kunden vereinfacht wird.

Das Gutenberg-Projekt will nichts weniger sein als ein elektronisches Archiv klassischer deutscher Literatur. Es orientiert sich am amerikanischen Vorbild. Seit 1971 sammelt und ediert Michael Hart an der Universität von Illinois englische Texte für die Benutzung am Computer. Nach dem Auftakt mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung konnte im September der Eingang des tausendsten elektronischen Textes vermeldet werden, darunter nun auch eine Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“ (promo .net/pg/). In Deutschland existiert das Archiv erst seit 1994. Den Anfang machten einige Märchen, die auf einem Rechner des Fachbereichs Informatik der Universität Hamburg bereitlagen. Mittlerweile ist der Bestand kontinuierlich auf 500 Bände ausgeweitet worden. Die Liste der Autoren reicht von Hartmann von Aue über Heinrich von Kleist bis hin zu Frank Wedekind. Nicht nur Theodor Fontane, sondern auch dessen unbekannterer Zeitgenosse Karl Gutzkow steht mit einen Mausklick zur Verfügung.

Die Beschränkung auf ältere Literatur beruht nicht auf einem Vorurteil für kanonische Klassiker. Sie ist eine Folge des Urheberrechts. Das Projekt Gutenberg kann nur Texte aufnehmen, deren Autoren seit mindestens 70 Jahren tot sind. Kafka und Rilke sind dabei, Mann und Döblin dagegen tabu. In diesem Rahmens geben die Vorlieben der Beteiligten den Ausschlag für die Auswahl der Autoren und Werke. Mittels eines Scanners, eines digitalen Fotokopierers, wird das Foto einer Buchseite als Datei abgelegt. Eine Worterkennungs-Software untersucht die Datei auf Buchstabenmuster und erstellt eine Textdatei, die dem Text der fotokopierten Seite entsprechen soll. Dieses Ideal wird aber nicht immer erreicht. Die Software irrt oft. Zwar wird die Schreibweise jedes Wortes mit einem Wörterbuch abgeglichen, aber dem inhaltlichen Unterschied von „Ritter“ und „Retter“ schenkt das Programm keine Beachtung. Deshalb bemüht sich Gerd Bouillon, einer der Aktivsten im Projekt, um ein „intensives Lesen“ jedes einzelnen Satzes. So kommt es, daß vorwiegend belletristische Werke angeboten werden, denn die Aussicht, sich z.B. mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ auseinandersetzen zu müssen, wirkt abschreckend.

Die Auswahl der Bücher wird außerdem durch die Technik eingeschränkt. Die Software erkennt nur die heute üblichen Antiqua- Schriften. Da in Deutschland bis in die dreißiger Jahre hinein die Frakturschrift vorherrschte, scheidet ein Großteil der antiquarischen Bücher als Vorlage aus, wenn sich niemand die Mühe macht, sie abzutippen. Daraus ergibt sich erneut ein Problem, weil auf jüngere Ausgaben zurückgegriffen werden muß, an denen Herausgeber oder Verlage unter Umständen Urheberrechte reklamieren können.

Nicht nur die Digitalisierung selbst kostet Arbeitskraft. Zum einen müssen die eingesandten Texte der freiwilligen Helfer in das Textformat des World Wide Web überführt und zum anderen muß die Struktur des Archivs insgesamt übersichtlich gehalten werden. Zusätzlich zur unbezahlten Arbeit entstehen mit der Bereitstellung im Netz Kosten beim Provider. Daher sah sich Gunter Hille schon früh gezwungen, um Unterstützung zu bitten. Mit seinem Ansinnen stieß er jedoch auf Ablehnung und Unverständnis. So verfolgen die Verlage das Projekt mit deutlicher Zurückhaltung. Der Deutsche Klassiker Verlag findet es schlicht unsinnig, kostenintensiv erarbeitete Textfassungen der Klassiker umsonst zur Verfügung zu stellen. Auch der enzyklopädische Hang des Projekts Gutenberg wird, etwa von seiten des Reclam- Verlags in Stuttgart, mißtrauisch beäugt: Muß es gleich der ganze Text sein? Täten es nicht auch Appetithappen?

Die Konkurrenzangst der Verlage ist kurzsichtig. Das Archiv reizt zum Lesen – von Büchern. Zwar liegen die Zugriffszahlen für deutsche Verhältnisse sehr hoch, es fällt aber selbst den Beteiligten schwer, sich vorzustellen, daß die bereitgestellten Bücher tatsächlich am Bildschirm gelesen werden. Der Hypertext mit seinem Flattersatz markiert einen allzu deutlichen Gegensatz zur übersichtlichen Buchseite. Wahrscheinlicher ist, daß die Texte dem Stöbern und Anlesen dienen. Das Regal ist immer voll, ein bequemer Sitzplatz zudem immer garantiert. So könnte das Projekt bald die Funktion einer öffentlich zugänglichen Bibliothek erfüllen, in der auch solche Autoren und Werke einen Platz finden, die sonst den Kosten- Nutzen-Rechnungen der Verlage zum Opfer fallen.

Akademiker und Beamte leisten Widerstand

Sind die Texte einmal digitalisiert, ergeben sich weitere Möglichkeiten: Sie können zum Beispiel über eine Sprachsoftware Blinden zugänglich werden. Doch das Interesse offizieller Stellen bleibt weit hinter dem privatwirtschaftlichen Engagement zurück. Die Bonner Ministerien, bei denen Hille um Unterstützung nachsuchte, halten die Geldsäckel verschlossen oder schieben die Zuständigkeiten weiter. Das Wissenschaftsministerium (BMBF) wies den Bittsteller mit dem Hinweis ab, man kümmere sich um technische Projekte. Der Hamburger Literaturwissenschaftler Klaus Bartels wiederum moniert, daß die Texte wissenschaftlich nicht zitierfähig seien.

Hille läßt dieser Einwand ungerührt. Er ist Informatiker, kein Textkritiker, bei ihm steht das Problem der Übereinstimmung von Vorlage und Textdatei im Vordergrund. Literaturwissenschaftler hätten sich bei ihm bislang kaum gemeldet, sagt er. Der Umzug aus der Gutenberg- in die „Turing-Galaxis“ steht bevor, wie der Ausdruck des Theoretikers Wolfgang Coy lautet. Rechner mit leistungsfähigen Prozessoren und ausreichend Speicher haben schon heute Taschenbuchgröße erreicht. Die Phantasie fordert nur noch Funkmodem und kontrastreiche Bildschirme, um sie wie ein Buch gebrauchen zu können: aufschlagen und lesen. Patrick Goltzsch

pat@minerva.hanse.de

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