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5 Minuten, 50 Meter, 50 Jahre

■ Orte an der Ostsee und das Gedenken an die Cap Arcona, nach einem halben Jahrhundert Von Kay Dohnke

1. Die Katastrophe

Mitte April 1945 begann die Auflösung der noch nicht befreiten nationalsozialistischen Konzentrationslager Neuengamme, Stutthof bei Danzig und des Auschwitzer Nebenlagers Fürstengrube. SS-Mannschaften vernichteten belastendes Aktenmaterial, pferchten die Häftlinge in Güterwaggons oder trieben sie in langen Kolonnen auf Zwangsmärsche. Im Ostseeraum angelangt, wurden die Gefangenen auf Schiffe gebracht, ohne daß es noch ein Ziel für die Transporte gegeben hätte.

In der Nacht zum 3. Mai 1945 lagen drei Großschiffe mit Häftlingen in der Lübecker Bucht vor Neustadt/Holstein: der Luxusdampfer Cap Arcona mit 4200 Gefangenen aus Neuengamme, die Athen mit 2000 Gefangenen, der Frachter Thielbek mit 2800 Gefangenen aus dem KZ Stutthof. Mehrere kleinere Boote hatten weitere 1600 Häftlinge an Bord. Im gesamten Küstenbereich ankerten zahlreiche deutsche Kriegsschiffe.

Während der frühen Morgenstunden gelang es fast allen Häftlingen von der Thielbek, bei Neustadt und Pelzerhaken an Land zu fliehen, wo viele von ihnen durch SS und Volkssturm erschossen wurden. Gegen 14 Uhr begann ein Luftangriff britischer Bomberstaffeln auf die Schiffe, denn man nahm an, daß sich Nationalsozialisten damit außer Landes absetzen wollten. Innerhalb kürzester Zeit fingen die Cap Arcona, die Athen und weitere Boote unter dem heftigen Beschuß Feuer und sanken bald darauf. Nur wenige Häftlinge gelangten ans Ufer, mehr als 8000 kamen ums Leben. In den folgenden Tagen trieben Hunderte von Leichen an die Strände bei Scharbeutz, Haffkrug, Neustadt, Pelzerhaken und wurden in Sammelgräbern beerdigt.

2. Der Friedhof

Ein staubiger Feldweg endet unterhalb vom blitzneuen Klinikum Neustadt am Ufer der Ostsee. Kurz vor dem Wasser, links: „Surfzone. Auf Badende und Strandbesucher ist Rücksicht zu nehmen.“ Kurz vor dem Wasser, rechts: Stutthofweg. Hier wurden 200 Gefangene aus dem Danziger KZ von der SS erschossen. Auf wen ist hier Rücksicht zu nehmen? Der Weg entlang der Bucht führt zum Ehrenfriedhof, dem offiziellen, zentralen Gedenkort für die Katastrophe. Unmittelbar davor die Gaststätte Kiebitzberg: Restaurant, Bierstube. Parken nur für Gäste. Besucher der namenlosen Gräber erwartet man offenbar nicht.

Die eilige Passage des Strandweges ist erschwert, eine Gitterpforte muß hier, eine Gitterpforte am jenseitigen Ende durchschritten werden. TüraufTürzu: 50 Meter Stille, keine lauten Stimmen, Gedenken unvermeidlich. Ein Blick auf den Stein: „7000 K-Z 3.5.1945“. Was auch immer das heißen mag. Dazu die Staatsangehörigkeit der Opfer, alphabetisch, ordentlich. Eine kleine Bronzetafel klärt über den Hintergrund auf. Exakt: Um 14.30 Uhr kamen an jenem 3. Mai die Flugzeuge. Ungefähre Opferzahlen, nach den Schiffen spezifiziert. Groteske Exaktheit. Aber wie sonst? Den Strandweg weiter, TüraufTürzu: jetzt darf wieder gelacht, wieder im Heute gelebt werden.

Funktioniert diese Gedenk-Nötigung? Was denkt, wer dort täglich entlangkommt? Über der Bucht – dort, wo damals die Wracks lagen – glitzert die Sonne. Auf 50 Meter ist Gedenken unausweichlich. 7000 K-Z. Menschen. Ermordete.

3. Im Hauptort

Neustadt in Holstein, Schauplatz der Katastrophe. Hier retteten sich einige der Überlebenden ans Ufer, das doch keine Rettung bot: An Land wurden viele erschossen, die Einwohner schauten weg, verweigerten Lebensmittel und Erste Hilfe. Ein Ort mit historisch-moralischer Hypothek. Das Ostholstein-Museum im Krempertor hat seit 1990 einen Anbau, das Museum Cap Arcona. Drinnen Schaubilder und Karten, Häftlingskleidung unter Glas. Fundstücke als Denk-Anlaß. Montags geschlossen, aber auf Wunsch jederzeit zu besichtigen.

Saisongemäß zeigt ein Ladenfenster am Marktplatz Bücher zum Kriegsende. Offene Worte von den Buchhändlerinnen: Ja, wer hier aufwuchs, weiß von der Cap Arcona. Lagen ja lange genug in der Bucht, die Trümmer, die Wracks. Sprechen darüber, das tat kaum jemand. Und wenn, dann fehlte nie der Hinweis, daß ja Engländer die Schiffe versenkten. Ob die Leute mehr wissen wollten? Nein, das Thema war tabu, nur die Friedensgruppe blieb hartnäckig. Und irgendwann konnte sich die Stadt nicht länger verweigern, schrieb ein Buchprojekt aus. Im Fenster liegen mehrere Exemplare des Werkes von Wilhelm Lange. So ganz glücklich ist man mit der Darstellung nicht. Vielsagend der Hinweis: Darum haben sich auch andere beworben, aber die Stadt hatte eigene Vorstellungen. Was der Überlebende Rudi Goguel 1972 veröffentlichte, ist längst vergriffen, auch das Buch von Günter Schwarberg. Da muß man wohl doch froh sein, daß es wenigstens den Lange gibt; zumindest ist das besser als gar kein Buch. Ja, auch die Durchreisenden, die Sommergäste interessieren sich manchmal für das Thema. So hin und wieder.

4. Das Buch

Lange Jahre hindurch wurde in Neustadt lieber geschwiegen, verdrängt, abgewiegelt, was doch in allen Köpfen lebendig war: Ältere Einwohner der Stadt hatten die Vorgänge miterlebt, erst 1950 war das Wrack der Cap Arcona aus der Bucht entfernt worden. Die Geschichte blieb greifbar nah.

Wilhelm Langes Buch sollte 1985 dann endlich abschließend dokumentieren, was geschehen war an jenem 3. Mai 1945. Tatsächlich konnte die gründliche Recherche, kombiniert mit Zeitzeugenbefragungen, den faktischen Ablauf der Katastrophe rekonstruieren. Faktisch ja, doch damit blieb das Problem der Darstellung. Und blieb ungelöst in einem schwer erträglichen Gemisch aus nüchtern-grotesker Beschreibung der „Waffenwirkung“, Pathos im Stil von Landser-Heften, Umgangssprache, mißglückten Wortungetümen. Das Buch als Fakten-, Zahlen-, Datenquelle – vielleicht. Wenigstens das. Doch es versagt in dem krampfhaften Bemühen um Distanz, Nüchternheit, Unbeteiligtsein. Zitate sprechen für sich.

„Die Waffenwirkung der Raketen-Typhoons konnte vollständig erreicht werden. Da die Raketenbomben der Jabos verschossen waren, wurde die Jagd auf alle Ziele eröffnet, die sich mit den Bordmaschinenkanonen wirkungsvoll bekämpfen ließen. Ä...Ü Bordwaffengeschosse mähten entlang der Kaimau-er, verursachten Panik und hinterließen Tote“. Lange, S. 87.

„So verblieb eine nicht geringe Zahl der KL-Gefangenen lethargisch – mehr tot als lebendig – in den Laderäumen. Ein Teil der an Land gekommenen teilte diesen Zustand mit den an Bord verbliebenen.“ Lange, S. 83.

„Schall- und Druckwellen der sich in diesem Seegebiet mit Hilfe von Haftladungen selbstversenkenden ca. 40 Kriegsschiffe ließen es für die KL-Gefangenen Zeit werden, irgend etwas zu unternehmen, da sich die Lage nur noch verbessern konnte.“ Lange, S. 82.

5. Am Strand

Scharbeutz-Haffkrug – Vorahnung des Sommers. Die Ufermeile gibt sich multikulturell. Backfisch aus der Pfanne, Balkanrestaurant „Strandperle“, Pizza Sorento, Taverne Corfu: ein kulinarisches Euro-Dorf. Plünn-Otto und Bernstein Basar warten auf die Saisongäste. Nichts stört die Aussicht über die Bucht nach Neustadt, längst ist der Horizont vom Wrack der Cap Arcona gesäubert.

Der Blick aufs Meer, auf Badende und Surfer ist für immer zugleich der Blick auf die brennenden, die sinkenden Schiffe. Ist – oder sollte sein? Ein verschwundener Anblick, unvereinbar mit der Gegenwart, die Verbindung ist vom Bewußtsein nicht zu leisten. Erinnern an nicht Miterlebtes wird zum intellektuellen Akt, anmaßend gegenüber den Unwissenden. Große Worte vom Gedenken, vom Aufarbeiten – in der Praxis des Alltages Leerformeln und Hilflosigkeit. Denken die Badenden auf Mallorca an Bosnien oder Ruanda?

An der Seebrücke steht ein historischer Badekarren. Historie: Ob es die Strandurlauber interessiert, daß hier vor 50 Jahren Leichen angetrieben sind, KZ-Gefangene, ertrunken, erschossen, verbrannt. Den Ufersaum entlang, über Sierksdorf hinauf bis nach Neustadt, wurden Sammelgräber angelegt, Männer, Kinder, Frauen in Sträflingskleidung. Das Massengrab in Neuengamme mit dem Sammelgrab am Strand vertauscht. Unten im Ort: keine Stelle des Gedenkens an diese Historie.

Aber ein Wanderweg, eingezeichnet in die Karte, führt hinauf zum Ehrenmal, einige Minuten zu Fuß außerhalb von Haffkrug.

6. Ein Ehrenmal

Die Gedenkstätte, eingeengt zwischen Autobahnausfahrt und Bundesstraße. Das Parkplatzschild signalisiert eiligen Fahrern Haltemöglichkeit. Jetzt wird geharkt, damit zum Jahrestag auch alles hübsch unberührt aussieht. Aussieht, als würde die Anlage ständig betreut, als wäre sie immer so unberührt. Unmittelbar im Blick der standardisierte Gedenktext, jenseits der Bucht als Bronzetafel, hier in Stein gehauen. Die gleiche Präzision: Um 14.30 Uhr kamen die Flugzeuge. Die gleiche Distanz.

Deutsches Gedenken, deutscher Gedenk-Ort: Steine im Halbkreis, immergrünes Buschwerk, ein großes Holzkreuz. Standardanlage, Standardsymbolik; Kriegshelden oder Kriegsopfer – austauschbar. Geharkt, gebürstet, laubbefreit für den 3. Mai. Bereit, Kränze zu empfangen, bereit für Tränen. Tränen des unüberwindlichen Schmerzes, und dazwischen, unmerklich, Krokodilstränen der offiziell verordneten Betroffenheit. Die Redner des heutigen Gewissens, nachgeboren zumeist, werden fast unerkennbar sein zwischen den Überlebenden, die Trauer aus dem Herzen überdeckt die Trauer aus kalendarischem Anlaß. Jubiläums-Trauer, Halbjahrhundert-Trauer, zum Erinnerungsmarathon ein fast flächendeckend deutsches Phänomen in diesem Mai.

Und vorher, und heute, und ich? Sind fünf Minuten schweigende Andacht genug? Wie gedenkt man richtig? Darf hier fotografiert werden, Zelluloid-Voyeurismus für späteren Bedarf? Unten fährt ein Wagen auf den Parkplatz. Ein Mann steigt aus, pinkelt ins Gebüsch. Dann geht's zurück auf die Autobahn.

7. Und noch ein Ehrenmal

Bescheiden auf dem Neustädter Stadtplan vermerkt, nicht weit vom Cap Arcona-Friedhof und fast zum Verwechseln: ein Ehrenmal. Steine im Halbkreis, immergrünes Buschwerk, kein großes Holzkreuz. Standardanlage, doch bei genauem Hinsehen gänzlich anders: 1914 – 1918 Flamme empor 1939 – 1945. Das doppelte Gesicht der deutschen Geschichte. Im Rücken, gegenüber auf der anderen Hafenseite, die Zerstörer der Bundesmarine. Russische Frachter werden mit Gebrauchtwagen beladen. Etwas oberhalb ein Grillplatz mit Bänken. Wer gedenkt hier wessen bei Wurst und Bier, und wie lange?

Rudi Goguel: „Cap Arcona“. Frankfurt/Main: Röderberg 1972.

Günter Schwarberg: Angriffsziel Cap Arcona. Hamburg: Stern-Buch 1983.

Wilhelm Lange: Cap Arcona. Dokumentation. Eutin: Struve 1988.

Nächster Teil am Sonnabend, 6. Mai

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