■ Den Nobelpreis bekam sie nie. Doch auch ohne höchstrichterliche Weihen wurde Astrid Lindgren die erfolgreichste Kinderbuchautorin der Welt. Von Jan Feddersen: Auch für Kinder eine Autorität
Vor ihren Werken warnten die Buchwächter noch Anfang der fünfziger Jahre: Nur in die Hände reiferer Kinder sollten sie gegeben werden. Das hat der Popularität Astrid Lindgrens keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Gerade die pädagogischen Bedenken verschafften den Geschichten über Michel, Pippi, Kalle, Lisa, Bosse und die Prusseliese den nötigen Kredit bei jungen Lesern. Mitte der siebziger Jahre war die Schwedin in ihrem eigenen Land so unangreifbar, daß ihre öffentlich bekundeten Meinungen sogar Regierungen zu Fall bringen konnten.
Es muß ein schönes Land gewesen sein. Wälder, Holzhäuser, Seen, Hühner im Stall, eine Kuh zum Anfassen. Irgendwie gab es dort auch Eltern. Aber sie störten nicht. Gott sei Dank waren sie da. Aber sie meckerten nicht den ganzen Tag an einem herum. Prügel teilten sie auch keine aus. Etwa weil man versehentlich den Kaktus mit Spülmittel gedüngt oder die Strümpfe auf dem Spielplatz verloren hatte. Schularbeiten scheinen ein Kinderspiel gewesen zu sein. Und das Freunde- Haben auch. Wohnten auch noch gleich nebenan. Langeweile gab es einfach nicht. Dann ging man eben auf dem Heuboden schlafen. Oder nachts im See baden und nach Trollen suchen. Bullerbü. Das Paradies. Sicher.
Eine Kindheit in den sechziger Jahren. Die Mutter hat dem Jungen gesagt, es gebe bessere, ja wichtigere Bücher. Solche für Jungs. Man las nicht für Träume. Und die Geschichten von den Menschen auf den bäuerlichen Höfen in Bullerbü bildeten einfach nicht. Nicht einmal literarisch. Waren unwichtig sozusagen. Der Junge ließ sie reden und dachte heimlich: Das muß ein tolles Land sein, dieses Schweden.
Später suchte er weitere Steine für sein Traumlandmosaik. Jenes Land, das Verfolgten Exil gewährte – Kurt Tucholsky und Nelly Sachs. Das durch Olof Palme regierungsoffiziell den Vietnamkrieg geißelte. Viele Jahre später nützten auch Enthüllungen über schwedische Nazifreundlichkeiten, Waffenexporte, Menschenexperimente und moralische Heucheleien nichts; das Land blieb in den Augen des Heranwachsenden ziviler und entspannter als die Bundesrepublik.
Es war jedenfalls ein Land, das sich auf einen sozialdemokratischen Gemeinsinn verständigt hatte und in dem es Konservativen nach deutscher Art einfach nicht gelingen wollte, eine Mehrheit zu bekommen. Gütige, heitere, umsorgende Menschen leben gewiß dort. Kinder haben dort scheinbar genug Luft zum Atmen.
Im Herbst 1949 erschien das erste Buch Astrid Lindgrens in Deutschland. „Pippi Langstrumpf“, eine – aus damaliger Sicht – irre und wirre Geschichte über ein Mädchen, das ohne Eltern in einer großen Villa lebt, nur in der Gesellschaft des Affen Herr Nilsson und des Pferdes Kleiner Onkel. Die Kritik ließ auf sich warten. Man war offenbar ratlos. Solchen Stoff mußte man noch nie beurteilen. Fehlte es am Handwerkszeug? Oder an der Vorstellung, was Kinder gerne lesen?
Der Rezensent der „Musterbibliothek des Erziehungsdepartments“ in Basel senkt schließlich 1952 seinen Daumen: Dem Buch fehle „jegliche, einigermaßen mögliche Wirklichkeit“; die „originelle Grundidee“ wirke „abstoßend“. Kurzum: Der Erzählung gehe „trotz aller ,Kindertümlichkeit‘ der ursprüngliche, kindliche gesunde Humor ab“. Johannes Colshorn urteilte für die Einkäufer und Bibliothekarinnen der Volksbücherei Bremens vorsichtiger. Die Titelheldin werde „kindliche Leser erfreuen“, geeignet sei es dennoch erst für „reifere Kinder“.
Herbert Wendt bewies in seinem Aufsatz („Revolution in der Kinderstube?“) in der Neuen Literarischen Welt das beste Gespür für den späteren Bestseller: „Was Astrid Lindgren darstellt, das ist nicht verfälschter und überzuckerter Alltag, es ist der kindliche Kosmos schlechthin.“ Und er prophezeite goldrichtig: „Pippi Langstrumpf – das ist eine Figur, die alle Aussichten hat, klassisch zu werden wie Robinson, Gulliver und Huckleberry Finn.“
Das hatte die Autorin selbst nicht voraussehen können. Geboren wurde sie zu einer Zeit, als Frauen gerade erst anfingen, sich nicht nur als Ehefrauen und Mütter zu verstehen. Aufgewachsen ist die Tochter eines Pfarrhofpächters in einem Landstrich, in dem es schon immer mehr religiöse Sekten als Bahnstationen gibt. Smaland – das ist die schwedische Entsprechung zum Bayerischen Wald: hinterwäldlerisch, eng und gottergeben.
In Vimmerby ging Astrid Lindgren zur Schule, dort, wo heute ein Vergnügungspark nach ihr benannt ist und (gerade deutsche) Kinder gerne Bullerbü und Villa Kunterbunt nachspielen. Lehrer lobten ihre Aufsätze, nannten sie sogar die „Selma Lagerlöf von Vimmerby“. Doch Schriftstellerin wollte Astrid Anna Emilia Ericsson nicht werden, eher Journalistin. Während eines Volontariats bei der Wimmerby Tidningen wurde sie schwanger, von einem Mann, den sie nicht mochte: „Diesen Mann heiraten? Ich liebte ihn einfach nicht. Lieber wäre ich gestorben.“ In ihrem Städtchen war das ganz unmöglich und schickte sich für eine Frau auch sowieso nicht. Ohne Berufsabschluß und Einkommen mußte sie ihren Sohn Lars zu Pflegeeltern nach Kopenhagen geben. Sie hatte ihre Lektion gelernt: Die Provinz hat ihre Tücken.
Noch heute, sagt sie, bekomme sie „einen warmen Riesenstein im Magen“, wenn sie daran denkt, ihn weggegeben zu haben. Aber die Verhältnisse – die waren damals nicht anders.
In Stockholm ließ sie sich zur Sekretärin ausbilden – damals der Modeberuf für Frauen, die der häuslichen Enge entfliehen wollten. 1930 holte sie sich ihren Sohn zurück. Endlich hatte sie genug Geld, alleine für ihn aufkommen zu können. Triumphierend fuhr sie in einer offenen Pferdekutsche mit ihm durch ihr Heimatdorf – um den giftenden Tanten etwas zum Klatschen zu bieten. Doch ihr Sohn kehrte schließlich zu seinen dänischen Eltern zurück – an ihnen hing er, nicht an seiner leiblichen Mutter.
1944, seit dreizehn Jahren verheiratet mit Sture Lindgren, dem Direktor des Königlichen Automobilclubs, schreibt sie für ihre Tochter zu deren zehnten Geburtstag eine Geschichte. Es ist eine muntere Collage aus komischen Szenen, die nicht viel mit der Moralowirklichkeit zu tun haben, die Erwachsene ihren Kindern damals schon zeitig eintrichtern wollten: Es war die Urfassung der „Pippi Langstrumpf“. Nachdem ihr Kind Karin ebenso gerne zuhörte wie auch gelegentlich Verbesserungsvorschläge machte, entschloß sich Astrid Lindgren, das Manuskript an einen Verlag zu schicken.
Der retournierte die Sendung fast postwendend. Die Geschichte über das Mädchen mit der Mutter im Himmel und dem Vater zur See sei kaum geeignet, sensible Kinderherzen zu entzünden, hieß es. Ein konkurrierender Verlag, Rabén & Sjögren in Stockholm, jedenfalls prämierte ein anderes Lindgren-Skript („Britt-Mari erleichtert ihr Herz“) mit einem zweiten Preis in der Mädchenbuchsparte. Im Jahr darauf kommt auch „Pippi Langstrumpf“ endlich zu verdienten Ehren. Die Zeitung Svenska Dagbladet fand die Geschichte der 37jährigen Autorin so wunderbar und unterhaltsam, daß sie sie mit dem ersten Kinderbuch-Preis kürte.
Die Karriere der Sekretärin Astrid Lindgren als Kinderbuchautorin war nicht mehr aufzuhalten. Die Bilanz nach einem halben Jahrhundert: 70 Kinder- und Drehbücher sowie Theaterstücke, weltweit in über 40 Millionen Exemplaren verkauft. Übersetzt wurden ihre Geschichten in 68 Sprachen. Sie und ihr Verlag – der zur richtigen Zeit einen famosen Sinn für hoffnungsvolle Jungautorinnen hatte – wurden gemeinsam wohlhabend.
Unumstritten war sie im eigenen Land freilich anfänglich nicht. War das überhaupt Literatur? War es nicht die vornehmlichste Aufgabe von Kinderbuchautoren, historische Schinken oder geschlechtliche Initiations- und Erbauungsromane zu verfassen (etwa „Der Kampf um Rom“, „Nesthäkchen“, „Der kleine Lord“)? Waren Lindgrens Figuren nicht einfach profan? Führungslose Wesen, die ironisch, manchmal grotesk die Sitten und Gebräuche der Volljährigen auf die Schippe nahmen? Was Astrid Lindgren erfand, war keineswegs gering: das Kind als selbständige Person in der Literatur. Kinder haben ihre eigene Welt. Sie haben Vorstellungen, die von denen der Erwachsenen abweichen – und das ist gut so, war die heimliche Botschaft der Frau aus der småländischen Provinz. Ihre Figuren sind dennoch keine Zombies, die vollständig die wirkliche Welt ignorieren. Aliens sind weder Pippi noch Stina noch Michel oder Karlsson vom Dach. Nur: Sie sind keine Marionettenfiguren aus der Erwachsenenzurichtungskiste. Die Frau aus Vimmerby wußte aus eigener Erfahrung, daß in ihrer Heimat der Nachwuchs früh schon mitackern mußte, um den Lebensunterhalt zu sichern. Doch sie inszenierte ein Eigenreich der Kinder, und zwar eines, das nicht notwendig gegen die Eltern gerichtet ist – sondern neben ihnen einen Ort findet.
In Lindgrens Welt wissen die Eltern, daß Kinder Räume für sich brauchen. Und daß Vertrauen die erste Tugend ist im Verhältnis zwischen den Generationen. Dabei werden die Kinder nicht verniedlicht. Auch sie haben Pflichten zu erfüllen, auch ihnen sind Grenzen gesetzt. Doch diese Grenzen markieren nur die Linie, die einzuhalten das gemeinsame Leben erfordert. Eine antiautoritäre Revolte war im Lindgrenschen Kosmos nicht nötig: Respekt und Gehorsam sind für die Schwedin Begriffe, die sich aus dem menschlichen Miteinander der Generationen von selber verstehen und keine weitergehende Funktion erfüllen.
Die Prusseliese beispielsweise, Fürsorgerin und Lehrerin in der Stadt, in der Pippi Langstrumpf lebt, darf unterrichten und ratschlagen, aber sie darf sich nicht ungebeten in Dinge einmischen, die sie nun wirklich nichts angehen: Welches Kind hat diese Stelle aus dem Lindgrenschen Bestseller nicht in sein Herz geschlossen?
Die Lindgrensche Haltung war für deutsche Leser und Leserinnen völlig neu. Die Eltern der ersten „Pippi Langstrumpf“-Generation waren noch im Geiste nationaler Erweckung aufgewachsen. Junge Männer starben an der Ostfront, noch jüngere ließen sich zumindest für die letzte Schlacht mobilisieren. Eine demokratische Kinder- und Jugendliteratur existierte kaum. Erich Kästner („Emil und die Detektive“), später Otfried Preußler („Die kleine Hexe“), James Krüss („Mein Großvater und ich“). Die Werte, die diese Werke trugen, waren eine Rarität in der Aufbaustimmung. Lindgren avancierte in der Bundesrepublik schnell zur Starautorin einer neuen Kinderliteratur, weil sie über gewichtige Dinge leicht zu schreiben verstand. Kritiker wandten ein, daß Pippi Langstrumpf als Übermensch gezeichnet werde – aber das war, so Lindgrens Biographin Vivi Edström zu Recht, lächerlich.
Nicht zuletzt trug zum literarischen Erfolg auch eine Schreibtechnik bei, die Lindgren einem Medium abgeguckt haben könnte, das es allerdings Mitte der vierziger Jahre so gut wie gar nicht gab: dem Fernsehen. Alle ihre Romane und Geschichten lassen sich häppchenweise lesen. Die Kapitel schließen mit Cliffhangern, mit einer Pointe, einem Spannungspunkt, der bereits auf den nächsten Abschnitt hungrig macht. Selbst Lindgrens Ur-Pippi – die ihre ersten Lektoren von allzu kruden Einfällen tilgten – ist wie ein Drehbuch aufgebaut, mit schnellen Schnitten, Perspektivwechseln, kurzen Dialogen, mehreren Spannungsbögen. Kurzgeschichten eigentlich, die doch erst gebündelt zu einem Roman werden – wie beim US-Amerikaner Armistead Maupin und seinen „Stadtgeschichten“ oder bei Johannes Mario Simmel in all seinen Büchern, vor allem aber in „Hurra, wir leben noch“.
Die reportagenhafte Collagetechnik Lindgrens machte ihre Bücher zu perfekten Filmvorlagen. Nicht nur „Pippi Langstrumpf“, auch „Michel aus Lönneberga“, „Ronja Räubertochter“ – der vielleicht ambitionierteste, doch am wenigsten geglückte Roman, weil er sich insgeheim an das Thema Sexualität herantraut – und „Die Kinder aus Bullerbü“ wirken auch nach vorhergehender Buchlektüre nicht enttäuschend: Im Kino scheint sich die Wunschwelt des Lesers fortzusetzen.
Astrid Lindgren ist in ihrer schwedischen Heimat seit langem mehr als eine Autorin, die ihre Nachkommen mit einer ordentlichen Erbschaft hinterlassen wird. Sie ist eine Nationalheilige, der nicht einmal Königin Silvia – wenn sie wollte – etwas anhaben könnte. 1976 bekamen dies die seit ewigen Zeiten regierenden Sozialdemokraten zu spüren. Lindgren, selbst langjährige Sozialdemokratin, spießte damals einen weitverbreiteten Unmut in ihrem Land auf – die selbst Menschen mit normalen Einkommen schröpfenden Steuergesetze. Und sie verfaßte ein Märchen.
Es hieß „Pomperipossa in Monismanien“ und handelte von einem Land, in welchem die Regierenden sich so sicher in ihren Sesseln wähnen, daß sie glauben, ihren Wählern alles abverlangen zu können. Für ihre in der Sache scharfe, in der Vortragsweise typisch harmlose Kritik erntete Lindgren nur Häme seitens der Regierung („Die alte Frau soll es beim Schreiben belassen“, so ein Staatssekretär), woraufhin die Autorin ihre Parteimitgliedschaft kündigte. Kurz darauf wurden die Sozialdemokraten nach fünfzigjähriger Regierungszeit erstmals in die Opposition geschickt.
Mitte der achtziger Jahre schließlich nahm sie sich zusammen mit einer Tierärztin des Tierschutzes an. Resolut forderten die beiden Frauen die Abschaffung der Mißstände in der Massentierhaltung: „Meine Kuh will auch Spaß haben“, lautete die Buchgeschichte dazu. Gegen die versammelte Kraft der schwedischen Agrarlobby, unterstützt von Tausenden von Kinderbriefen, setzte die Bewegung 1988 ein Tierschutzgesetz durch, das nicht nur in der Europäischen Union einzig ist.
Weltweit ist sie mit Ehrungen überhäuft worden, in Chile wie in Slowenien. Michail Gorbatschow korrespondierte mit ihr über den Frieden. Ein schwedischer Mikrosatellit namens „Astrid“ enthält drei wissenschaftliche Instrumente; „Pippi“, „Emil“ (der Originalname von „Michel“) und „Mio“ sollen die Partikel des Sonnenwinds messen und Aufnahmen vom Nordlicht machen. So kann es kommen, wenn man seiner Tochter Geschichten vorliest und die sie auch noch klasse findet.
In der Bundesrepublik hat Astrid Lindgren alle Preise und Ehrungen bekommen, die als prominent und renommiert gelten, darunter den Deutschen Videopreis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zwar mäkelten in den siebziger Jahren alternative Pädagogen am „hochgestochenen bürgerlichen Individualismus“ der Lindgren-Figuren herum. Pippi ließ sich sozusagen in kein Rote-Rübe- Kollektiv einbinden. Aber diese Kritik verstand nichts vom Zauber der Lindgren- Geschichten – und verhallte folgenlos. Schulen und eine Straße sind nach ihr benannt worden. Deutsche Freunde setzten sich dafür ein, daß sie den Alternativen Nobelpreis zugesprochen bekam – was 1994 auch geschah. Man schmückt sich mit ihr – und sie hat nichts dagegen, „weil es so vielen guten Dingen nützen kann“. Das Elternrecht, die eigenen Kinder züchtigen zu dürfen, ist dennoch in der Bundesrepublik nach wie vor gültig.
Mittlerweile verehrt man sie in Schweden als beste Oma aller Kinderzeiten, wie eine Zeitungsumfrage herausfand. Ein rechtes Geburtstagskompliment.
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