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In Kairo wohnen auch Kamele

Beduinen vom Sinai setzen in Ägyptens Hauptstadt ihr Landleben fort  ■ Von Balduin Winter

Plötzlich ist, völlig ungewohnt, einen kurzen Augenblick lang Stille eingetreten. Ein paar Palmenäste streicheln den Abendhimmel, aufgefächert zwischen Rosa und Blaudunkel. Schwarz von der aufziehenden Nacht schneidet die Silhouette einer Moscheekuppel ein Stück aus dem Blickfeld. Die scheppernde Lautsprecherstimme des Vorbeters ist verhallt, das Abendgebet beendet. Langsam beginnt sich, von der Moschee her, die Gasse mit Menschen und Lärm zu füllen: kreischende Hupen, Polyphonie der Menschenstimmen, bis zu 15 ägyptische Volkslieder gleichzeitig – die undefinierbare Kakophonie der Riesenstadt Kairo bricht sich Bahn.

Eine Zeile bröckelnder Gemäuer, flache Hütten aus Lehm und Ziegeln, zieht sich bis zum steil abfallenden Berghang. An der Schwelle eines Hauses steht eine einfache Theke, im Freien davor zwei Reihen Stühle mit Tischchen. Eine Gruppe von Arbeitern läßt sich nieder, lebhafte, gestenreiche Gespräche dunkel- und hellhäutiger Menschen verschiedener Regionen Ägyptens.

Nebenan befindet sich eine kleine Werkstatt, zur Straße hin offen, Holzwände und ein gestampfter Lehmboden, eine Feuerstelle mit Blasebälgen. Vor einer Wand liegt ein mächtiger Holzblock, glattgehobelt die Oberfläche. Darauf hockt, im Kreuzsitz, ein alter Kupferschmied. Über der Faltenlandschaft seines Gesichts türmt sich eine weiße Kopfbedeckung. Soeben hat er mit einer Zange den noch rotglühenden Rumpf einer Ölkanne geschwenkt. Das erkaltende Gefäß zieht er nun auf einem im Holzblock fixierten Eisenstift auf und bearbeitet es mit einem ganzen Arsenal kleiner Hämmer. Ein paar Schritte weiter steht ein Bauernhof, gewissermaßen ein Dreikanter. Eine große schwarze Plane, am Flachdach befestigt und von knorrigen Stumpen getragen, bildet ein Vordach, unter dem einige Kamele und Rinder stehen. Es ähnelt einem Unterstand, wie sie bei den schwarzen Beduinenzelten auf der Sinai-Halbinsel oft anzutreffen sind.

Eine natürliche Einbuchtung in der Bergwand, ein paar Meter breit, ist ebenfalls mit zerschlissenen und verstaubten Decken und Planen überdacht, darunter drängt sich, jämmerlich zusammengepfercht, eine Herde Ziegen und Schafe. Neben dem Ziegenstall ist der Sandstein ausgehöhlt, die kleinen Löcher lassen einen Tauben- oder Hühnerschlag hier vermuten. Ein aus groben Steinen gebautes, nein, aufgetürmtes Haus, an dem jede gerade Linie vermieden ist, lehnt sich an die Bergwand an und schließt das Anwesen nach der dritten Seite hin ab.

Der Bauernhof wirkt wie ein Ruhepol in der Brandung der Großstadt. Vielleicht liegt das am Feuer im Hof und an den vier Männern, die dahintersitzen, mit den Gesichtern zur Straße gewandt, doch vertieft in ihre Gespräche und Wasserpfeifen. Zum sandigen Gehweg hin grenzt ein Zaun den Hof ab: in die Erde getriebene Bretter und Pfähle, mit allerlei Draht und Latten miteinander verbunden, in ihm integriert ein paar Bäume mit feinblättrigen Kronen.

Ein Bauernhof mitten in Kairo. „Früher kamen sie mit ihren Kamelen nur her, um ihre Waren zu verkaufen und Lebensmittel einzukaufen. Reis, Zucker, Kaffee, ein paar Kleider“, sagt Karim. Aber jetzt versuchen viele von ihnen ins Tourismusgeschäft einzusteigen, in Dahab und Nuweiba an der Ostküste des Sinai. Und manche glauben, hier in Kairo reich zu werden, vor allem die Jungen, obwohl sie mit dem Stadtleben kaum zurechtkommen.

Das halbe Land zieht nach Kairo, niemand weiß mehr, wie viele Menschen hier leben, ob zwölf, 15 oder 18 Millionen. Kairo ist die größte Stadt in Afrika, eine Metropole, mit großen Moscheen, mit prächtigen Kolonialgebäuden, mit luxuriösen modernen Vierteln. Aber Kairo ist auch das größte Dorf des Kontinents!

Immerhin scheinen es diese Leute vom Sinai, die auch in Kairo nicht auf ihre Kamele verzichten wollen, zu bescheidenem Wohlstand gebracht zu haben – das gelingt nur wenigen von den zigtausend Menschen, die Jahr für Jahr vom Land in die Stadt ziehen. Aber welch ein Sprung. Karim berichtet mir von seinem Gespräch mit den Männern am Feuer. Kindheit und Jugend hätten sie noch in einer ganz anderen Welt verbracht, in einer ganz anderen Zeit. Ein schwarzes Zeltdorf in der gebirgigen Steinwüste bei Nuweiba am östlichen Sinai sei ihre Heimat gewesen, weit abseits der Asphaltstraße und der Touristen, ein Ort, wo jedes Geräusch seinen Namen hat, wo jeder vertraut ist mit dem großen Schweigen dieser nahezu menschenleeren Landschaft, einem Schweigen, das über die Gipfel hinaus bis zu den Sternen reicht. Dort hätten sie die Kamele und Ziegen ihrer Sippe gehütet und Erfahrungen gesammelt für ein nahezu autarkes Leben. Sie seien aufgewachsen mit dem strengen Ehrenkodex der Beduinen.

Bis aufgrund des Abkommens von Camp David (1982) mit der schrittweisen Rückgabe des israelisch besetzten Sinai an Ägypten die „Ägyptisierung“ einsetzte. Das bedeutet neben verschiedenen Entwicklungsprojekten – Infrastrukturen, Strom- und Wasserversorgung, Schulwesen, Landvermessung, Straßenbau, Touristik – auch den Transfer von Ägyptern aus dem überbevölkerten Nildelta und die Ansiedlung der halbnomadischen Beduinen. Da prallten Welten aufeinander: Jahrhundertelang hatten Generationen von Beduinen auf dem Land ihrer Vorfahren gelebt. Plötzlich erklärte sich der Staat zum Eigentümer an Grund und Boden, verwarf das Gewohnheitsrecht und verkaufte, insbesondere an der Küste, Land an Fremde, die Hotelanlagen und Bungalowdörfer errichteten. Die alten Eigentümer mußten gehen oder ihr eigenes Land kaufen. Kaufen bedeutet meist Seßhaftwerden auf der erworbenen Parzelle und somit einen radikalen Bruch mit der überlieferten Lebensweise.

Hier, am Feuer, werden Geschichten erzählt, Erinnerungen ausgetauscht. Lange schon waren sie nicht mehr zu Hause. Aber gibt es dieses Zuhause in den Wüstenbergen überhaupt noch? An Kairo, das gegenteilige Extrem, haben sie sich gewöhnt, an das unbeschreibliche Gebrodel einer Metropole, die ständig dem Kollaps nahe scheint. Sie sind Entfremdete, die heute das Schweigen, das über ihrer Jugend lag, vielleicht gar nicht mehr ertragen könnten. Und dennoch können sie diese Jugend nicht leugnen, denn damals wie heute hüten sie ihre Kamele und Ziegen.

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