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Überlebenstraining in einem geteilten Land

Zwei Jahre nach Dayton kommen viele in Bosnien kaum über die Runden. Ihre Devise: Da müssen wir durch  ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder

Die Kuppel der im Krieg zerstörten Volksbibliothek ist wiederaufgebaut. Zwar sind viele der Bücher verloren, doch der vor allem durch österreichische Gelder finanzierte Bau gibt der Stadt ein optimistisches Gesicht zurück. Seit es wieder ganztägig Strom und Gas gibt, seitdem die Stadtverwaltung glaubhaft versichert hat, daß sogar das Wasser bald wieder fließen wird, finden die Bewohner zunehmend zum alten Lebensrhythmus zurück.

Der dichte Autoverkehr macht Staus zur Regel, die Straßenbeleuchtung und Ampeln funktionieren. Wer Pech hat, wird wegen Übertretung der Geschwindigkeit geblitzt. In der Altstadt drängen sich die Menschen, fliegende Händler preisen ihre Waren an, die Geschäfte sind voll von Früchten und Lebensmitteln. Sogar das „feine“ Sarajevo ist wieder präsent: mit teuren Kleidern, Schmuck und kostbaren Möbeln in den Auslagen. Nur jene, die gerade den seit einem halben Jahr laufenden Film „Der perfekte Kreis“ gesehen haben, wirken geschockt. Denn der Film des bosnischen Regisseurs Ademir Kenović, der die Geschichte von zwei Flüchtlingskindern im belagerten Sarajevo erzählt, erinnert alle wieder an das, was während der drei Jahre Krieg geschehen ist.

Hunderte von Restaurants und Musikcafés haben geöffnet und sind gut besucht. An dem Cappuccino und dem Kafa nippen besonders gerne die Mitarbeiter der internationalen Organisationen, die seit dem Abkommen von Dayton ihr Hauptquartier in der Stadt aufgeschlagen haben. Diese Ausländer sind zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Vor allem die hochen Mieten von 600 bis 3.000 Mark verhelfen so manchem Hausbesitzer zu einem geregelten Einkommen. Auch die gehobeneren Restaurants und Nightclubs leben von jenen, die hochbezahlt und meist als „Singles“ ihren Vertrag erfüllen. Die SFOR-Soldaten dagegen sind kaserniert und nur „dienstlich“ in der Stadt zu sehen.

Im Stadtteil Velesic, der sich auf den westlich der Altstadt gelegenen Hügeln befindet, zeugen schmucke Einfamilienhäuser und moderne Wohnblocks davon, daß hier vor dem Krieg keineswegs Armut herrschte. „Die Geschäftigkeit in der Stadt trügt“, sagt Samir Pandza. Obwohl sich der 30jährige mit Übersetzungen und kleinen Geschäften leidlich über Wasser halten kann, sieht er für die meisten Bewohner Sarajevos schwarz. „Die Geschäfte haben wieder aufgemacht, mit den Geldern der Verwandten aus dem Ausland können sich manche auch etwas kaufen. Aber produziert wird hier praktisch nichts. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat keinen festen Job.“

Zwar wolle das Volkswagenwerk in dem von den Serben demontierten Betrieb in Vogosca zukünftig Škoda-Autos bauen lassen, und auch die Gelder für den Wiederaufbau würden bald fließen. „Doch die Leute sind so pessimistisch wie nicht einmal während des Krieges. Die Alten bekommen umgerechnet 120 Mark Pension.“ Für die meisten sei das Leben nicht erträglich. „Fast alle ausgebildeten Leute wollen weg.“

So wie Milan. Der 37jährige Kunstmaler schlägt sich als Arbeiter in einem Gaswerk mit einem Lohn von 200 Mark und als Anstreicher durch. Während des Krieges ist der bosnische Serbe, dessen Familie zu den Alteingesessenen Sarajevos gehört, geblieben und hat als Soldat der bosnischen Armee die Stadt verteidigt. „Jetzt will niemand davon etwas wissen.“ Milan fühlt sich betrogen.

„Als ehemaligen Soldaten können sie mich nicht aus der Firma werfen“, sagt er, doch bei allen Zuteilungen käme er an letzter Stelle. „Die Mitglieder der muslimischen Nationalpartei SDA in der Firma sorgen erst für die muslimischen Arbeiter.“ Daß die Nachbarskinder ihm „Tschetnik“ nachrufen, daß er sich manchmal nicht mehr sicher fühlt, hat mit den muslimischen Flüchtlingen aus Ostbosnien zu tun. „Ich verstehe ja deren Aggressionen, nach allem, was Serben ihnen angetan haben, aber ich habe doch nichts damit zu tun.“

Noch könne er nach Kanada auswandern, „die nehmen Leute unter 38“. Angesichts seines Alters muß er sich bald entscheiden. Er muß noch einen Sprachkurs machen und das Haus verkaufen. Mit Frau und Kindern sei alles besprochen. „Die wollen auch weg.“

In den Hochhäusern von Novo Sarajevo, den Bruchbuden der Altstadt und den von Serben verlassenen Wohnblocks des Stadtteils Grbavica drängeln sich die muslimischen Flüchtlinge aus Ostbosnien. 70 Prozent der mehr als 400.000 Bewohner Sarajevos kommen vom Land. So wie Muhamed. Er will wieder in sein Heimatdorf bei Foca. „Aber die Serben lassen uns nicht.“ Jetzt wohnt er im Haus einer Serbin. Die alte Dame wohnt im Erdgeschoß und will ihre Tochter mit deren Kindern nachholen, die seit Beginn des Krieges in der Republika Srpska leben.

Mehrmals hat sie bei den Behörden den Antrag gestellt, um die Flüchtlingsfamilien loszuwerden. Ohne Erfolg. Erst wenn die Vertriebenen nach Hause gehen können, könne sie über die Wohnungen verfügen, war die Antwort der Stadtverwaltung. Bis dahin hätten die Flüchtlinge das Recht, die Wohnungen zu besetzen.

Die Stadt ist voll von Vertriebenen. Und die alten Bewohner Sarajevos wollen weg“, sagt Aida Alibalić. Die 31jährige ehemalige Jurastudentin mit dem I. Staatsexamen ist ebenfalls enttäuscht. „Ich wollte Rechtsanwältin werden. Dann kam der Krieg. Ich bin hiergeblieben, obwohl ich Angestellte internationaler Organisationen hätte werden können.“ Sie habe sich kürzlich um Stipendien in den USA beworben, um ihr Studium fortzusetzen, doch dort würde vor allem den Flüchtlingen geholfen. „Diejenigen, die gegangen sind, konnten sich weiterqualifizieren. Diejenigen, die geblieben sind, um das hier durchzufechten, werden nun erneut benachteiligt.“

Während des Krieges sei zwar alles schrecklich gewesen, aber die Leute hätten zusammengehalten. „Jetzt denkt jeder nur noch an sich.“ Nermina H. ist Ärztin im Kosevo-Krankenhaus. Sie will bleiben. Sie hat ihre minderjährigen Töchter, die während des Krieges in Deutschland lebten, zurückgeholt. „Wir müssen da durch. Aber von korrupten Politikern und Bürokraten werden viele Fehler gemacht. Die Energie, das Land wieder aufzubauen, schwindet. Jeder wirtschaftet nur in seine eigene Tasche.“

Mivludin K. hat ein Lebensmittelgeschäft aufgemacht. Seine Frau und seine Tochter arbeiten hier ebenfalls. „Viel verdienen wir nicht. Aber wir können uns über Wasser halten. Wenn diese verdammte Bürokratie nicht wäre.“ Der 56jährige ehemalige Gastarbeiter aus Wien schaut um sich. Niemand soll hören, was er sagen will. „Vorgestern kam ein Inspektor, um den Laden zu prüfen. Die finden immer was.“ Wegen einer angeblich den Vorschriften nicht gemäßen Stromleitung muß er jetzt 600 Mark Strafe bezahlen. „Die streicht der sich ein.“

Nur wenige Kilometer in Richtung Pale, direkt an der Demarkationslinie, dort, wo der serbisch kontrollierte Teil Bosniens beginnt, zeugen die nagelneuen BMWs und Mercedes-Limousinen auf dem Parkplatz des Restaurants „Dayton“ davon, daß es manchen besser geht. Die verschiedenen Autokennzeichen verraten, daß dieses Restaurant von „Geschäftsleuten“ aus allen Teilen Bosniens besucht wird.

An dem Eingang stehen Wachen, deren derbe Gesichter und ausgebeulte Jacken sie als Bodyguards ausweisen. „An den Tischen dort sitzt die Mafia“, flüstert der Begleiter. Hier würden nicht ganz so legale Geschäfte zwischen Kroaten, Muslimen und Serben abgewickelt. „Wir haben fast offene Grenzen nach Serbien und Kroatien. Dank Dayton ist die Demarkationslinie durchlässig geworden. Diese Leute schmuggeln nicht nur Alkohol, Zigaretten, Drogen oder sogar Leute aus Afrika und Asien nach Italien. Sie waschen auch Geld, bestechen die Bürokratie und die Polizei. Damit schaffen sie auch eine Verbindung zwischen allen Teilen Bosniens.“ Er lacht. „Die Kriminellen und die Mafia kennen keine Grenzen.“

Andere dagegen kennen diese nur zu gut. In der Schlange vor einem Nebeneingang des Präsidentschaftsgebäudes in Sarajevo stehen Serben aus Prijedor, Doboi und Bijeljina, die hier warten, um den Paß mit den Lilien, dem Symbol des muslimisch kontrollierten Bosniens, zu ergattern. Innerhalb von 24 Stunden werden sie ihn in den Händen halten.

„In der Republika Srpska bekommen wir gar keinen Paß“, sagt ein Mann, der sich als Radovan vorstellt. Er hatte Angst, nach Sarajevo zu kommen, in die von Muslimen dominierte Hauptstadt. Wie werden Serben aufgenommen, wird es zu Übergriffen kommen? Da aber einer seiner Nachbarn schon dagewesen ist und alles problemlos abgewickelt wurde, habe er die Reise riskiert.

Jetzt ist er erleichtert. Niemand hat ihn belästigt. Bei einer Polizeikontrolle wurden lediglich die Wagenpapiere überprüft. Er wird jetzt einen Paß erhalten, der von den serbischen Behörden in dem von Radovan Karadžić beherrschten Pale als Dokument des Teufels angesehen wird. Die Verhandlungen über einen gemeinsamen Paß, einheitliche Autokennzeichen und eine gemeinsame Flagge werden von der Führung in Pale blockiert, nicht jedoch von jener in Banja Luka. Auch hierin zeigt sich die Spaltung der Republika Srpska.

„Paß und Autokennzeichen sind das Wichtigste“, sagt Radovan. „Wir Serben in der Republika Srpska besitzen nur die Kennkarten aus der Zeit vor dem Krieg, da kann man nirgendwohin reisen. Hätten wir gemeinsame Autokennzeichen, könnte niemand erkennen, woher du kommst. Dann könnte man sich ohne Angst wenigstens in ganz Bosnien-Herzegowina bewegen.“

„In Prijedor“, berichtet die 36jährige Lehrerin Snezana, die ebenfalls in der Schlange steht, „werden bosnische Pässe für 600 Mark gehandelt, kroatische für 700.“ Wer sich also nicht traut, nach Sarajevo zu kommen, kann sich einen Paß „auf dem schwarzen Markt besorgen“ und damit nach Kroatien einreisen. Besitzer eines bosnischen Passes können dann ohne Visum nach Italien und Ungarn, mit kroatischen Pässen sogar in alle Länder der EU weiterfahren. „Doch wer hat das Geld dafür?“

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