: Curriculum der Katastrophen
■ Das ThéÛtre Demodesastre zeigt betörende Alpträume auf Kampnagel
Die meisten ihrer Bilder sind fahl und wirbeln viel Staub auf. La porte – ou je rêve d'un monde ist ein Stück über Erinnerungen, und die Fetzen, die Agnès del Amo aus ihrem Gedächtnis hervorgezogen hat, sind nicht gerade kuschelig. Peinliche Szenen, traumatische Schicksalsschläge, Dinge, die andere lieber für sich behalten würden. Nicht so Agnès del Amo. Sie stellt eine massive Tür in den Hintergrund und sich davor. Einmal berührt, öffnet sich das Ungetüm von selbst, und das Curriculum der Katastrophen ist nicht mehr aufzuhalten.
Am Mittwoch war die Tragödie für eine Tür, fünf Personen und ein Gespenst in deutscher Erstaufführung auf Kampnagel zu sehen – der vierte Akt von stage attacks. Einen seltsamen Bildertaumel hat del Amo gezeichnet, einen Reigen, der an Stummfilme oder an Marionettentheater denken läßt. Die Regisseurin des in Marseille ansässigen ThéÛtre Demodesastre orientiert sich an dem 1990 verstorbenen polnischen Theatermacher Tadeusz Kantor, der sich unter anderem der Aufgabe gewidmet hat, das Theater von der Dominanz des Textes zu befreien. Del Amo erweist sich in diesem Punkt als treue Schülerin: Ihre Texte sind zwar hörbar, doch nicht immer verständlich, in Französisch, Deutsch oder Englisch gesprochen oder getuschelt. Auch mit Flamenco-Gitarre, Kirchenglocken und klassischen Liedern sind die Szenen unterlegt. Darüber aber – und das ist ihr Zentrum – baut sie eine bewegte Galerie, deren Gemälde am Publikum vorüberziehen.
Eine Geburtstagsparty, eine Schulstunde, ein Alptraum, eine Hochzeit und eine Beerdigung werden zur Schau angeboten. Oft wird die Erinnerung auf einen Punkt focussiert: Die Hochzeitsgäste spucken auf das Brautkleid, um einen Lippenstiftfleck zu entfernen. Ein Mädchen versucht, einen umherwirbelnden Koffer zu bändigen. Die Trauergemeinde quetscht sich in den Sarg. Um diesen Punkt herum bleibt das Geschehen diffus. Die Braut fällt ein dutzendmal um, die Tür wird bis zur Ermüdung eingerannt. Immer wieder müssen die Akteure aufstehen, nach jedem Schlag, bis jemand auf die Stop-Taste drückt.
Schön und schrecklich anzuschauen ist die Flut der Bilder in La porte – ou je rêve d'un monde und eindrucksvoll gespielt. Auch ist das Stück wohl mit einer tiefen Symbolik versehen, die sich aber, obwohl unübersehbar, nicht immer erschließt. So bleibt am Ende der Eindruck, daß das Träumen ganz schön anstrengend sein kann.
Barbora Paluskova
heute und morgen, 21 Uhr, Kampnagel, k2
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