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Wie ein Fossil in einer fremden Welt

Der aus dem Gefängnis entlassene chinesische Dissident Wei Jingsheng versucht im amerikanischen Exil, seine eigene Oppositionsstrategie gegenüber dem kommunistischen Regime in Peking zu formulieren  ■ Aus New York Georg Blume

Für einen, der nach 18 Jahren im chinesischen Gefängnis in Amerika neue Gesellschaft sucht, ist es gar nicht so einfach, die richtigen Freunde zu finden. Heldentum hilft da wenig. Seit Wei Jingsheng vor einer Woche in New York eintraf, ist seine Schonzeit vorbei. „Ich werde versuchen, mit allen zu reden und jedem zuzuhören und dabei nicht über Kleinigkeiten zu streiten“, hat sich der „Vater der chinesischen Demokratiebewegung“ vorgenommen. Doch Wei ist noch keine zwei Wochen in Freiheit, da wird ihm dieser inoffizielle Titel, den westliche Medien für den Star-Dissidenen benutzen, von anderen Exilgruppen bereits streitig gemacht.

Sein politisches Hauptquartier hat Wei seit einigen Tagen in den Büros der New Yorker Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ bezogen. Damit fangen manche Schwierigkeiten bereits an. Unter den jungen Amerikanern in Jeans und Pullover, die vor bunt beklebten Wänden am Computer hocken, wirkt der 47jährige frühere Elektriker vom Pekinger Zoo wie ein Fossil aus einer anderen Welt. Höflich reicht man ihm Tee im Pappbecher. Das kennt Wei immerhin aus Peking. Dann beginnt der Ex-Häftling mit dem Kettenrauchen, denn endlich hat er genügend Zigaretten. Dem Greenhorn fällt gar nicht auf, wie die militanten Nichtraucher um ihn herum die Gesichter verziehen. Doch das „No smoking“-Schild kann er nicht lesen.

Wei kleidet sich im Exil wie einst im chinesischen Alltag: Flanellhemd, Kunstlederweste, Cordjacke – so kennt man ihn von früheren Aufnahmen. Würde oder gar Respekt strahlt er in diesem Aufzug nicht aus, aber vielleich gereicht es ihm so zu einer inneren Gelassenheit, die er in dem Gequassel ringsherum benötigt.

Wie gut für Wei, daß in seiner nächsten Umgebung der junge Xiao Qiang im tadellosen Nadelstreifenanzug für Ruhe und Ordnung sorgt. Xiao ist der vollamerikanisierte Manager der am gleichen Ort beheimateten Menschenrechtsorganistion „Human Rights in China“, die von Weis altem Kampfgefährten Liu Qing geleitet wird. Wenn sich der Neuankömmling im Exil überhaupt auf jemanden verlassen kann, dann auf Liu und seine drei Angestellten. Liu war es, der nach der Verurteilung Weis zu 15 Jahren Haft im Herbst 1979 die Verteidigungsrede des Angeklagten in Peking verbreiten ließ und dafür selbst etliche Jahre im Gefängnis verbrachte, bis er Anfang der Neunziger schwerkrank China verlassen konnte.

Als Führungspersönlichkeit aber erwies sich Liu so wenig wie die anderen Dissidenten, die bislang ins Exil gingen. Deshalb werden Weis erste Schritte in der neuen Welt von Freund und Feind so argwöhnisch beobachtet. Kommt da einer wie Nelson Mandela, der seine Leute hinter sich schart? Oder ein weiterer Alexander Solschenizyn, eine zwar moralisch tadellose, aber politisch unwirksame Stimme im Exil? Keine Frage: Wei will Mandela, nicht Solschenizyn sein. In dem Russen sieht er einen Mann, der ihm und der Menschheit aus dem Herzen gesprochen hat. Doch zu dem Südafrikaner sagt er: „Von ihm kann ich ewig lernen.“ Das ist ein klarer, kurzer Satz, wie ihn ein erfolgsorientierter Politiker spricht.

Der Kadersohn aus Peking versteckt sich nicht. Er weiß, daß er die Statur, die ihm seine Gulag- Odyssee moralisch verschafft hat, in diesen Tagen politisch gewinnen muß. So empfängt er pausenlos: amerikanische Senatoren, chinesische Dissidenten, Journalisten aller Länder. Nicht einmal mit Selbsteinschätzungen hält er zurück: „Meine Stärke ist, daß ich auf der richtigen Seite der Geschichte stehe. Um unseren Feind zu bekämpfen, kann ich die unterschiedlichsten Menschen vereinigen. Meine Schwäche hat mit dieser Stärke zu tun. Ich bin unflexibel. Ich habe Schwierigkeiten mit Kompromissen, die manchmal sehr wichtig sind.“

Vorsichtig deutet der von der heutigen Pekinger Intelligenzia als Idealist verlachte Wei bereits an, wozu er noch fähig ist: Politik kommt ohne Kompromisse nicht aus. Das gilt in der chinesischen Politik vor allem auch für die Themen Taiwan und Tibet. Natürlich bekennt sich Wei zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sonst würden ihn seine New Yorker Menschrechtsfreunde bald aus dem Haus schmeißen. Doch von der Unabhängigkeit Taiwans und Tibets hält Wei nichts. Dafür seien diese Länder zu klein. „Solange China undemokratisch ist, kann die Demokratie in Taiwan langfristig nicht überleben.“ Da spricht einer, der für über eine Milliarde Menschen denkt – soweit ist er immer noch Sohn der herrschenden Kommunisten.

Von denen mag er sich dann auch nicht vollständig abgrenzen. Er spricht vom Respekt für seinen Vater, einem bis heute unbeirrbaren Kommunisten. Er verweist auf die Demokraten in den Reihen der KP, die er in den unteren Schichten der Partei in der Mehrheit wähnt. Zwar findet er harte Worte für die neue Parteiführung um Jiang Zemin, die zum Totalitarismus tendiere. Doch im gleichen Zug schließt er eine Reformfähigkeit der Kommunisten grundsätzlich nicht aus. Sogar ein Gorbatschow im fernen Osten sei möglich. Es klingt, als ob er nach Verbündeten sucht – diesmal nicht in New York, sondern in Peking.

Vielleicht ist Wei gar froh, daß bei seinem Empfang auf dem New Yorker Flughafen die ehemaligen Studentenführer der Tiananmenrevolte mit Abwesenheit glänzten. In New York begegnete man einem Mann, der – wenngleich er noch über kein rundes Gesamterscheinungsbild verfügt – seine eigene Sprache im Exil bereits gefunden hat und nicht nur bei seinesgleichen gehört werden will. Nicht auszuschließen, daß an der Columbia-Universität, wo Wei künftig wohnen wird, die chinesische Demokratiebewegung ihr vorläufiges Zentrum haben wird.

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