: Notlügen und Narrenfreiheiten
■ Bei der Mitgliederversammlung von Hertha BSC herrschte Harmoniesucht. Trotz unsicherer sportlicher Zukunft und Filzvorwürfen sehnt sich der Verein nicht nach den alten Skandalzeiten
Der Herr kam, um den Seinen Balsam auf die Seelen zu streichen. Rolf Schmidt-Holtz, Bertelsmann- Manager und Vorsitzender des Aufsichtsrates bei Hertha BSC, gab sich auf der Mitgliederversammlung des Bundesligisten am Donnerstag abend in Siemensstadt betont locker und väterlich. An den schwelenden Querelen in der Führungsetage vorbeiredend, bemerkte er: „Wir haben den Verein auf den richtigen Weg gebracht, um ihn in der Bundesliga zu etablieren.“ Mäßiger Applaus im prallgefüllten Saal angesichts dieser Notlüge, der sich zum mittleren Orkan steigerte, als der Kaufmännische Leiter, Norbert „Dr. No“ Müller, für das abgelaufene Geschäftsjahr einen Gewinn von 1,1 Millionen Mark auswies.
Nur beiläufig gab Schmidt- Holtz „Kommunikationsprobleme“ in Aufsichtsrat und Präsidium zu, aber die – schließlich ist der Mann vom Fach – tat der Medienmacher als typische Erscheinungen des operativen Zeitgeistes ab: „Diskussionen schaden nie. Das haben wir insgesamt gut gemacht.“ Donnernder Applaus.
Als sich dann auch noch Präsident Manfred Zemaitat bei seinem Rivalen, Trainer Jürgen Röber, für die unsensible Behandlung in den Vorwochen entschuldigte („tut mir leid“), wähnte man sich für einen Moment in der falschen Veranstaltung.
Das soll ein Treffen jener legendären Hertha-Anarchos sein, die früher unter Tränen selbstgemachte Gedichte vortrugen, deren wahnwitzige Inhalte („Hertha, was wäre ich ohne dich“) jedem Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb das Wasser abgegraben hätten?! Nach etwas mehr als einer Stunde Spielzeit schien das Palaver bereits beendet, bis sich Expräsident Wolfgang Holst zu Wort meldete. Nun ging ein Ruck durch die einbalsamierte Gemeinde, denn der Großgastronom, gestählt in vielen Vereinsskandalen, ist immer für ein rhetorisches Schmankerl gut.
Diesmal attackierte der rüstige Mittsiebziger mit seiner barocken Prosa den gleichaltrigen Aufsichtsrat Robert Schwan, der im höchsten Klub-Gremium angeblich die Planstelle des Fußball-Gurus einnimmt, aber bislang erst ein Spiel von Hertha BSC live miterlebt hat. „Es reicht nicht“, fuhr Holst den passionierten Alpinisten an, „wenn Sie in Kitzbühel mit der Spitzhacke drohen. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie vor Ort sind.“ Plötzlich war der Saal hellwach, echte Herthaner erkannte man daran, daß sie sich klatschend auf die Schenkel schlugen. Die Arbeitsgeräte der gierigen Journalisten fingen Feuer.
Der Berggeist konterte geschickt mit einem Exkurs auf den herrschaftsfreien Diskurs. „Sie haben bei mir Narrenfreiheit, Herr Holst“, lächelte Schwan müde. Da die meisten Anwesenden Jürgen Habermas für einen Nationalspieler aus Frankfurt hielten, hatte der Luis-Trenker-Verschnitt seine Sportprüfung mit Bravour bestanden. Ohnehin hatte Schwan nichts zu befürchten, denn Neuwahlen standen diesmal nicht auf der Tagesordnung.
Auch der Vorwurf der Vetternwirtschaft gegen die Vereinsleitung, vorgetragen von Hertha-Mitglied Thomas Wolf, prallte an der allgemeinen Harmoniesucht ab. Tenor: Wen juckt es schon, daß der neue Zeugwart Tom Riedel nicht nur Schwager von Profikicker Axel Kruse, sondern auch ein ehemaliger „Croupier in einem Zockerladen“ ist? Oder die Tochter des Präsidenten einen Halbtagsjob im Karten-Management ergattern konnte? „Fräulein Zemaitat ist Sportstudentin“, entkräftete der Kaufmännische Leiter Dr. Müller diesen Vorwurf fachmännisch.
Widerworte gab es keine, denn bei Hertha hat es in der Vergangenheit wahrlich schon „schrägere Vögel“ in exponierteren Positionen gegeben – aber auch unterhaltsamere Mitgliederversammlungen. „Der Abend hatte ein hohes Niveau, da sieht man mal wieder, wie sich die Zeiten ändern“, bedankte sich das über die Jahrzehnte in Ehren ergraute Faktotum „Kalle aus der Kurve“ artig bei den Moderatoren auf dem Podium. Jürgen Schulz
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