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All time party

Einst sollten Weihnachtsbräuche das Wohnen in der unwirtlichen Zeit verschönern. Heute verzaubern Lichterketten ganzjährig die Wohnungen  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Nur das Kind hat noch seine Windeln. Doch in seine Krippe glotzen zwei Dutzend rote Augen: unter den ihr übergestülpten, aufgedunsenen Weihnachtsmanngesichtern leuchtet die Lichterkette kaum noch. Dafür verbreitet der hektisch blinkende Stern am Fenster Disco-Atmosphäre. Wunschzettelgemäß steht der von der Deco-Agentur komplett bestückte Baum im Raum: unter den nagelneuen, künstlich gealterten Kugeln, unter den Schleifen und Perlenketten ist es egal, ob sich eine echte Tanne, Fichte oder Kiefer verbirgt. Duftspray verleiht selbst Plastikimitaten echtes Tannenaroma. Weißes Pulver aus dem Spender sorgt auch bei Zimmertemperatur für Schnee-Effekte. Doch der Schmuckständer muß sich den Platz mit der Weihnachtspyramide teilen: sein Motor – Kerzen reichen längst nicht mehr, um das mannshoch gewordene Karussell in Bewegung zu setzen – verbreitet ein besinnliches Brummen. Stille Nacht, schrille Dekoration.

Alle Jahre wieder verwandeln professionelle Weihnachtsdienstleister, die Extraseiten der Designzeitschriften, die Sonderverkaufsflächen der Warenhäuser und nicht zuletzt die Bewohner selbst ihre Wohnungen in Schmucklandschaften. Doch der kurze Streifzug durch das Angebot macht deutlich: So sehr die eigenen vier Wände auch gefüllt werden, so wenig ändert all die Dekoration an ihrem Ambiente.

Dabei wurden all die Gewohnheiten gerade erfunden, um die Wohnwirklichkeit zu verbessern. Schon das Datum des Festes ist, obwohl die religiöse Bedeutung, Christi Geburt, nicht eindeutig zu terminieren ist, keineswegs zufällig. In den Landschaften der nördlichen Hemisphäre, dort, wo alle Gebräuche und Zutaten ihren Ursprung haben, fällt Weihnachten in eine düstere, unwirtliche Zeit. Die Nächte sind lang, die Tage grau. Nichts wächst. Die Natur hält Winterschlaf. Das Wetter drängt die Menschen in ihre privaten Höhlen. Das Leben käme zum Stillstand – gäbe es nicht Weihnachten. Das Fest bringt Leben in eine eher lebensfeindliche Zeit.

Die Jahresendfeier soll die Endzeitstimmung vertreiben. Zwei Dinge gehören seit jeher zu den Basics des Festes: Lichter und immergrüne Pflanzen. Wann die Sitte aufkam, das Haus zur Winterzeit erst mit Zweigen, dann mit ganzen Bäumen – je nach Landstrich wurden Tannen, Fichten, Kiefern, Buchsbäume, Eiben oder Stechpalmen verwendet – zu schmücken, läßt sich nicht mehr genau nachvollziehen. Sicher ist: Geboren wurde sie zu einer Zeit, als Zimmerpflanzen noch unbekannt waren. Und bereits im 15. Jahrhundert war der Brauch derart populär geworden, daß Dekrete es den Bürgern verboten, mehr als einen Baum aus den Wäldern zu holen.

Das Brauchtum entwickelte sich aus dem, was gebraucht wurde. Die symbolische Bedeutung dieser Bräuche stellt lediglich eine mystische Überhöhung ihres praktischen Gebrauchswerts dar. Hinter dem Ziel, „böse Geister zu vertreiben“, steckt nichts anderes als der Versuch, die Winterdepression zu verdrängen. Immergrüne Pflanzen stehen für ewiges Leben. Kerzenschein bringt Licht und Wärme in eine dunkle, kalte Zeit.

Diese simplen Maßnahmen entfalteten eine ungeheure Wirkung. Bald schon merkte man: Was zu Weihnachten gut ist, kann die Wohnung auch das übrige Jahr verschönern. Über das Festtagsgrün kamen die Zimmerpflanzen in die eigenen vier Wände. Aus dem temporären Weihnachtsbaum wurde der Gummibaum als fester Bestandteil der Wohnungseinrichtung. Auch Lichterketten entfalten ihre Wirkung heute ohne Baum, ranken sich das ganze Jahr über Wände und Bücherregale. Mehrheitlich werden sie nicht mehr, zum Baum passend, in Grün, sondern in Weiß angeboten.

Durch die Adaption der Bräuche in den Alltag verlor das Fest einen Teil seiner Festlichkeit. Umgekehrt reduzierte der Wandel des Alltags die Wirkung des Festschmucks. Die elektrische Beleuchtung machte die Nacht zum Tag. Die Zentralheizung besiegte auch die klirrendste Kälte. Der Massentourismus brachte die Möglichkeit, dem grauen Wetter zu entfliehen. Der Winter verlor seinen Schrecken. Eine einsame Kerze vermag in einer Berghütte Atmosphäre zu schaffen, im Lichtermeer der Großstadt nicht.

Die Gebräuche büßten ihren Gebrauchswert ein, übrig bleibt die reine Schmuckfunktion. Aus Tradition wurde Dekoration. Der schlichte Wunsch nach einem „schönen Fest“ erlaubte Moden – Ökoschmuck oder alles in Lila –, verbietet aber echte Experimente. Neuheiten – Fehlanzeige. Die Motive bleiben die gleichen, mit zunehmender Distanz zur „guten alten Zeit“ steigt nur der Aufwand.

Wie also weiter, wenn nicht mit der oben beschriebenen Hochrüstung? Die Pariser Designerin Anne Séverine Liotard beschritt den umgekehrten Weg. Sie besann sich auf den uralten Zauber des Kerzenscheins. Aus viel simplem Stearin und wenigen Wollfäden gießt sie gigantische Kerzen. Unendlich langsam fressen sich die Flammen durch die Wachsmasse. Über Monate taucht der mannshohe Körper die ganze Wohnung in ein besinnliches Leuchten. Mit etwas zeitlicher Koordination bilden die Flammen genau zum Fest ein Baumsymbol. Ein Lichterbaum im Wortsinn.

Ein noch einfacheres Objekt entwickelten die Hamburger Formkünstler feldmann + schultchen für das Hamburger Designhaus „stilwerk“. Mit der Laubsäge schnitten sie in ein quadratisches Stück aus sehr dünnem Sperrholz eine Spirale. In ihrem Zentrum befestigten sie einen Bindfaden. An die Decke gehangen und mit Kerzen bestückt, formt die Schwerkraft aus dem simplen Brett einen Weihnachtsbaum.

Einfacher geht's nicht. In weniger als einer Stunde kann sich jeder das wichtigste Requisit für das wichtigste Fest des Jahres zurechtzimmern. Ist das Happening vorbei, läßt sich das gute Stück in Sekundenschnelle wieder zusammenklappen. Mit dem Platzbedarf einer Schallplattenhülle wartet es auf seinen nächsten Einsatz. Alle Jahre wieder.

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