■ Nachschlag: Auf Wanderschaft mit dem Philharmonischen Orchester
Bevor die Reise losging, gab es Protest auf den Podiumsplätzen. Eine Studentengruppe erhob sich, um ihren Unmut über die Bildungspolitik im Chor vorzutragen. Dem Publikum gefiel der Einsatz, er wurde mit heftigem Applaus bedacht. Dann begann mit Schostakowitschs erstem Violinkonzert der Marsch durch die Musikgeschichte. Solistin Midori gab das Tempo an. Im ersten Satz, dem „Nocturne“, drosselte sie Claudio Abbados Eile, um darauf im „Scherzo“ selbst das Orchester anzutreiben; im zweiten Satzpaar wiederholte sich der Kampf um die Geschwindigkeit. Im Folklorethema der abschließenden „Burleske“ finden sich die Kontrahenten. Niemand hat verloren, gewonnen haben die Zuhörer.
Nach der Pause gab es Luigi Nonos letztes Orchesterwerk, „No hay caminos, hay que caminar...“ („Es gibt keine Wege, doch wir müssen gehen...“). Hier wird die variierende Lautstärke zum Ausweg in der Ausweglosigkeit. Sieben Gruppen (mit hohem Trommleranteil) wurden im Saal verteilt, die Klangpartikel wanderten durch den Raum. Wer sich vom „Wanderer-Zyklus“ mehr Jagdgetön versprochen hatte, verließ nach Nonos Variationen des „G“ den Platz. Hatten die erschrockenen Damen und Herren sich nicht informiert?
Der radikalen Schlichtheit folgten als scharfer Kontrast Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Der schwedische Bariton Peter Mattei verlieh Mahlers Musik solch intensive Wärme, daß ihm daraufhin in Franz Schuberts Lied „Der Wanderer“ die Luft ausging. Die Ohren waren allerdings vornehmlich auf das Arrangement gerichtet: Das für eine Singstimme und Klavier komponierte Stück hat Wolfgang Rihm, „composer in residence“ der Berliner Philharmoniker, in eine Orchesterfassung übertragen, die erstmalig aufgeführt wurde. Rihm übernimmt Tonart, die Notation für Gesang und Klavier, reichert das Werk aber mit Bläsern und Streichern an. Die klassische Ergänzung macht aus dem Klassiker ein Schubert- Werk, das weniger klassisch wirkt, weil die philharmonische Klangfülle die Prätention der „Wanderer“-Dichtung abschwächt.
Der Arbeit folgt das Vergnügen: „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ von Richard Strauss beendet Abbados Programm. Die Freude der Philharmoniker an dem kuriosen Stück war weder zu übersehen noch zu überhören. Carsten Otte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen