: Odyssee einer Handschrift
Ruine oder Torso? Erstmals ist Kafkas Roman „Der Process“ als Faksimile bei Stroemfeld erschienen ■ Von Micha H. Haarkötter
Kaum fiel das Urheberrecht an seinem Werk, 70 Jahre nach Franz Kafkas Tod 1924, kündigte der Stroemfeld Verlag mit dem Einleitungsband und dem Dom-Kapitel aus dem „Process“ eine Edition der Extraklasse an: Kafka in einer Faksimileausgabe mit vorangestellter Transkription, ohne weitere editorische Eingriffe. „Ich mußte Verleger werden, weil ich solche Sachen selber haben wollte“, meint Verleger K.D. Wolf lapidar.
Doch erst in diesem Herbst erscheint der erste Band dieser „Frankfurter Ausgabe“, Kafkas „Process“-Roman, und setzt ein editorisches Highlight, das auch im Rahmen dieser Ausgabe nur noch schwer zu überbieten ist. „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben...“, beginnt der Roman, Josef K. wird vor ein geheimnisvolles Gericht gestellt, ohne je die Anklage zu erfahren, von einem Richter verurteilt, den er nie zu Gesicht bekommt, und schließlich hingerichtet: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Ein Werk, so rätselhaft wie sein Autor, und selbst die 2.000 Doktorarbeiten über Kafka konnten die Geheimnisse nicht lüften, vor denen schon der Protagonist Josef K. kapitulieren mußte. Kafkaesk, fürwahr.
Ein Stück Weltliteratur jedenfalls, das nur dank der Hellsichtigkeit von Kafkas Freund Max Brod auf die Nachgeborenen gekommen ist. Wäre es nach Kafka gegangen, so wäre der „Process“ dem Feuer übergeben worden. Und in der von Brod redigierten Fassung hielt diese Tragikomödie als Fragment ihren Triumphzug von den Schreibstuben der Existentialisten bis in die Denkfabriken des Poststrukturalismus.
Das Ungenügen der Brodschen Fassung, das auch vom Herausgeber selbst benannt wurde, hielt fortan Scharen von GermanistInnen in Brot. Doch das Manuskript, so man überhaupt von einem Manuskript sprechen kann, stand nach dem Tod des Kafka-Freunds nicht mehr zur Verfügung, und die Odyssee der „Process“-Handschrift gäbe beinahe selbst einen Krimi ab, der damit endete, daß ein Strohmann 1988 das Juwel für 3,4 Millionen Mark aus Bundesmitteln erstand und dem Marbacher Literaturarchiv übergab.
Sauber eingescannte Durchstreichungen
Andernfalls wäre die von Roland Reuß vorgelegte Ausgabe des Romans nicht zustande gekommen: 316 säuberlich eingescannte Seiten einer überraschend leserlichen Handschrift, deren mäanderndem Verlauf wie auch allen Durch- und Unterstreichungen der Kafka-Fan nun folgen kann. Doch schlichte Leselust wäre Reuß zuwenig gewesen: Nicht weniger als den gordischen Knoten der Kafka-Forschung durchschlagen will er mit seiner Edition, drunter macht er es nicht. Dabei wählt Reuß nicht den elegantesten, aber den bequemsten Weg der Problemlösung: Er geht Problemen aus dem Weg.
Am augenfälligsten ist dies bei der Frage nach der Reihenfolge der einzelnen Kapitel: Der Frankfurter „Process“ hat keine! Er kommt in einer kiloschweren Kassette in 16 einzelnen Konvoluten, denn, so Reuß, man nehme „dem mündigen Leser damit nicht die beschwerliche, zugleich aber auch freudvolle Arbeit ab, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie alles hätte werden können“. Zugleich wird damit ein Schlußstrich gezogen unter einen Jahrzehnte währenden Streit der Philologen, der sich neben der Kapitelreihenfolge vor allem am Fragmentcharakter des Werks entzündete.
Für Kafka selbst galt der gesamte Roman als „unvollendet“. Das muß aber nicht viel heißen, denn Kafka hielt praktisch sein gesamtes Werk für unfertig. Selbst von ihm publizierte Erzählungen wie „Das Urteil“ oder „In der Strafkolonie“ konnten dem vernichtenden Verdikt seines Autors nicht entgehen. „Ein wenig wild und sinnlos und hätte sie nicht innere Wahrheit [...], sie wäre nichts“, sagt Kafka über die eine. „Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund“ über die andere. Der „Process“ hat hier noch eine Sonderstellung, kreist er doch beinahe ausnahmslos selbst um die Metaphern vom Beenden- Wollen und vom Nicht-beenden- Können, und Max Brod war wieder der erste, der darauf verwies: „Da aber der Prozeß [...] niemals bis zur höchsten Instanz vordringen sollte, war in einem gewissen Sinne der Roman überhaupt unvollendbar, das heißt in infinitum fortsetzbar.“ Um so willkürlicher Brods Einteilung in angeblich vollendete und vermeintlich unvollendete Kapitel, der auch Malcolm Pasley 1990 in seiner kritischen Ausgabe bei S. Fischer im Prinzip noch folgte. Ruine oder Torso? Abgebrochene Schreibarbeit oder Gestaltung eines Formprinzips, das sich, um ein wunderschönes Wort Alfred Sohn-Rethels hier anzubringen, als „Ideal des Kaputten“ bezeichnen ließe? Die Frage ist vielleicht unbeantwortbar, und Reuß weicht ihr mit seiner Kassiberpolitik aus.
Herausgekommen ist dabei ein diskontinuierliches Werk, das einem Hypertext mehr ähnelt als dem, was man sich klassischerweise unter einem „Roman“ vorstellt: Kafka für Websurfer. Daß das Opus als Zugabe noch auf CD- ROM beigepackt ist, verstärkt den Eindruck. Reuß wehrt sich im Kommentarheft zu seiner Ausgabe vehement gegen diese Einordnung. Doch fußt er dabei zu sehr auf Arbeiten, die einseitig die technologische Komponente des Hypertext-Begriffs als Datenbank betonen (man klickt von Link zu Link ohne fest vorgegebene Struktur). Einschlägiger wäre hier ein (Hyper-)Text-Begriff, wie ihn der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette in seinem Buch „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“ entwickelt hat. Das Palimpsest ist ein Schriftstück aus der mittelalterlichen Schreibwerkstatt, bei dem vom teuren Pergament eine ursprüngliche Schrift getilgt wurde, die aber durch die Neubeschriftung weiter hindurchschien. Und genau das ist die Faksimileausgabe des „Process“, ein Neben- und Durcheinander von Textebenen und von Blättern, durch die buchstäblich noch die tieferen Dimensionen der Schreibarbeit durchschimmern.
Tiefere Dimensionen der Schreibarbeit
Die Konstitution von Text kann nur durch die Lektüre erfolgen, ist doch die Lese-Arbeit selbst ein palimpsestuöser Akt bei Konvoluten wie dem Frankfurter „Process“, die eine lineare Textbewerkstelligung konsequent verweigern. Und das ist allemal mehr Begründung für die neue Ausgabe als die bescheidene Auskunft des Herausgebers, „wer Kafka mag, hängt auch an den Zügen, der Graphik seiner Handschrift“.
Daß Reuß sich mit seiner Editionspraxis in Erklärungsnotstand sieht, liegt auch daran, daß er gegen die immer noch geltenden Editionsprinzipien aus dem vorigen Jahrhundert Sturm läuft. Denn was Reuß nur allzu deutlich ausweist, ist, daß die Utopie der „letzten Hand“, die an den Text gelegt werden müsse, um das unverbrüchlich gültige „Werk“ herzustellen, selbst brüchig ist.
Kafkas „Process“ ist ein Dokument der Traurigkeit: Hier steht einer, der konnte sein Tagwerk, das er überwiegend nachts vollbrachte, nicht fertigbringen. Und das Faksimile seiner überraschend gut lesbaren Handschrift ist eine nackte Edition, die den Schreibprozeß des verzweifelten Nicht-enden-Könnens nachvollziehbar machen will: Kafka in Unterhosen, eine Lust für Literaturjunkies, die selbst auch nichts fertigbringen. Kafka, einer der letzten in unserem fertigen Jahrhundert, die noch von der kunstwilligen Hand in den Mund lebten, doch schon so gebrochen, daß ihm das Enden verleidet war. Und das war die eigentliche Wirklichkeitsverzerrung, an der Kafka litt: So viel Enden war noch nie, und wie er's für seinen „Process“- Roman dem Freund Brod ins Stammbuch schrieb, endete Kafkas eigene Familie: im Feuer, von Auschwitz, wie man es in der Chronik „Die Familie Kafka aus Prag“ von Alena Wagnerová nachlesen kann. Das Laborieren am Ende macht gerade die Frankfurter Ausgabe deutlich, kann man doch z.B. am makabren Schluß, den Kafka als erstes schrieb, den Kampf um die letzten Worte nachvollziehen:
„,Wie ein Hund!‘ sagte er, sein letztes Lebensgefühl war Scham. Bis ins letzte Sterben blieb ihm die Scham nicht erspart. Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“
Daß, um auch noch Adorno zu paraphrasieren, das Enden nach Auschwitz nicht mehr möglich sei, hat Kafka mit seinem Gerichtsroman in jeder Schattierung der Symbolik vorweggenommen: nicht prophetisch, aber als Zeitzeuge der Traurigkeit.
Andererseits sei festgehalten, daß der „Process“ auch ein ungeheuer komisches Buch ist. Und die diebische Freude, die die Stroemfeld-Mannschaft bei der Erstellung dieses lohnenden Projekts verspüren muß, ist auch dieser Ausgabe anzumerken. Und Humor müssen Kafkas neue Sachwalter auch haben, stehen sie doch der Phalanx einer Schriftgelehrtenrepublik gegenüber, in der es sonst nicht viel zu lachen gibt.
Franz Kafka: „Der Process“. Faksimile-Edition. Hg. von Roland Reuß. Unter Mitarbeit von Peter Staengle. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld, 398 DM
Alena Wagnerová: „Im Hauptquartier des Lärms. Die Familie Kafka aus Prag“. Bollmann Verlag, 39,80 DM
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