■ Die Bektaschi waren die drittgrößte Religionsgemeinschaft Albaniens, als der Diktator Enver Hoxha 1967 alle Religionen verbot. Das spirituelle Zentrum der Glaubensgemeinde in Tirana besuchte Thomas Schmid: Europas vergessene Derwische
Die muslimische Religionsgemeinschaft der Bektaschi war in Anatolien und auf dem Balkan, in Albanien, im Kosovo, Makedonien und Bosnien-Herzegowina verwurzelt. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes, das sie verfolgte, reorganisieren sie sich in Albanien.
Das Haus würde in einer anderen Stadt wohl nicht sonderlich auffallen. Man könnte es für eine Villa halten, gebaut von einem Architekten mit vielleicht etwas apartem Geschmack. Doch in einem der tristen Außenviertel der albanischen Hauptstadt mit den verdreckten und aufgerissenen Straßen und den unverputzten Häusern wirkt das große weiß-grüne Gebäude, das allein auf einer kleinen Anhöhe steht, wie ein Fremdkörper. Auf der einfachen Holzbank vor dem mächtigen Portal sitzen zwei alte Männer in langen weißen Röcken und grünem Überwurf und plaudern. Wir befinden uns in der Tekke von Tirana, einer Art Kloster, Konvent oder Gebetshaus. Eine bescheidene Tafel verkündet auf albanisch und englisch: Weltzentrum der Bektaschi.
Nachdem Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, 1925 sämtliche Derwisch-Orden verbot, verlegten die Bektaschi ihre Zentrale in die albanische Hauptstadt. Hier hatten sie eine starke Bastion. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren vermutlich 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung Albaniens Bektaschi. Etwa ein Viertel der Muslime, die 70 Prozent der Bevölkerung ausmachten, bekannte sich somit nicht zur Sunna, sondern zu der islamischen Religionsgemeinschaft, die sich auf Hadschi Bektasch beruft, einen anatolischen Mystiker aus dem 13. Jahrhundert. Der Gast wird ins Innere des Heiligtums geführt. Auch hier dominieren die Farben Grün und Weiß. Der Hauptsaal ist mit zahlreichen Gemälden geschmückt. Sie zeigen Bektasch auf der Pilgerfahrt, eine Familie beim Gebet, verschiedene Männer mit wallenden Bärten – es sind „Baba“ (Väter) und „Dede“ (Großväter), wie die höheren Chargen in der Bektaschi-Hierarchie genannt werden.
Dann erscheint der „Groß-Dede“, Weltoberhaupt der Bektaschi, leibhaftig: Haxhi Rexhat Bardhi. Als ob sich da einer aus dem Bilderrahmen gelöst hätte. Auch der „Groß-Dede“ trägt den weißen knöchellangen Rock, den grünen Überwurf, die hohe weiße Kappe, deren unterer Teil mit einem grünen Turban zusammengehalten wird. Der lange graue Bart und der müde, leicht gebrochene Blick verleihen ihm die Würde eines weisen und greisen Patriarchen.
Doch der Mann ist erst 63 Jahre alt. Das Schicksal scheint ihm ins Gesicht geschrieben. Zehn Jahre lang, 1958 bis 1968, war Haxhi Rexhat Bardhi in Lagerhaft. Was man ihm vorgeworfen hat, weiß er nicht mehr. Es brauchte zu Zeiten der stalinistischen Diktatur Enver Hoxhas wenig, um für ein Jahrzehnt weggesteckt zu werden. Ein Wort konnte genügen, zumal wenn man ein geistlicher Würdenträger war. Und „Baba“ war der heutige „Groß- Dede“ schon damals. Wie alle, die aus politischen oder weltanschaulichen Gründen im Gefängnis oder Lager waren, mußte auch er nach seiner Freilassung Zwangsarbeit leisten – bis zum Fall der Diktatur 1991. Fast 23 Jahre lang war er vorwiegend im Straßenbau und in Steinbrüchen beschäftigt.
Aber darüber redet er ungern. Lieber spricht er von früheren Zeiten, als die Bektaschi nach den Sunniten und den orthodoxen Christen die drittgrößte Religionsgemeinschaft Albaniens waren, noch vor den Katholiken. Die Bektaschi fühlen sich wie andere mystisch geprägte Orden des Islam nur beschränkt an die Schari'a, das islamische Gesetz, gebunden. Bei den „Muhabet“, den Versammlungen, bei denen der „Baba“ den Gläubigen die Doktrin der Gemeinschaft erklärt und bei denen ganz allgemein diskutiert wird, sitzen Frauen und Männer durcheinander. Es wird auch Raki getrunken, der albanische Weinbrand. Zum Gebet sind die Bektaschi, anders als die Sunniten, nur zweimal am Tag verpflichtet, und sie brauchen sich dabei nicht gen Mekka zu verneigen. „Das wird bei uns alles etwas lockerer gehandhabt“, erklärt der „Groß-Dede“ schmunzelnd.
Doch andererseits kennt die Bektaschiyya intern eine hierarchische Struktur. Der Weg vom einfachen Mitglied über den „Muhib“ (arabisch für Freund), den „Derwisch“ (persisch für „Armer“) zum „Baba“ und „Dede“ ist traditionell mit Initiationsriten, Wartezeiten und religiösen Zeremonien verbunden.
Die Derwische waren im albanischen Zweig der Bektaschiyya in der Regel zum Zölibat verpflichtet. In Albanien, damals Randprovinz des Osmanischen Reiches, wurden die Bektaschi im 17. Jahrhundert heimisch. Nach der Auflösung der Janitscharen-Verbände durch Sultan Mahmud II. 1826 erhielten sie Zulauf aus Anatolien, dem Zentrum der Bektaschiyya. Denn mit der Zerschlagung der Elitetruppen des Osmanischen Reiches, die oft Derwischaufstände gegen die Zentralmacht unterstützt hatten, ging auch eine harte Repression gegen die Bektaschi einher, die mit ihnen seit Jahrhunderten eng verbunden waren und großen Einfluß auf sie ausübten. Viele flüchteten nach Albanien, wo die Repression weit weniger schlimm war.
In der „Rilindja“, der politischen und kulturellen Nationalbewegung der Albaner, spielten die Bektaschi dann eine wichtige Rolle. Die Tekke wurden zu Brutstätten des albanischen Nationalismus. Abdyl Frasheri, ein Bektaschi, wurde zum Führer der „Liga von Prizren“, die für die nationalen Rechte der Albaner im Osmanischen Reich kämpfte, sein Bruder Naim Frasheri war der populärste albanische Dichter. Die Bektaschi waren bekannt für ihre religiöse Toleranz. Der synkretistische Charakter ihrer Religion vereinigte Elemente des Schiismus, des Volksislam und insbesondere auch des Christentums (Beichte, Absolution). In der ersten Nacht des „Matem“, der zehntägigen Trauerperiode im Andenken an den Tod Huseins, Mohammeds Enkel, schließen die Bektaschi den Großen Christus explizit in ihr Gebet ein.
Als eigene Religionsgemeinschaft wurden die Bektaschi im unabhängigen Albanien 1920 insofern anerkannt, als man ihnen neben den Sunniten, Orthodoxen und Katholiken einen eigenen Sitz im Hohen Regentschaftsrat einräumte. Nach dem Verbot der Derwisch- Orden in der Türkei beschloß der Weltkongreß der Bektaschi, der damals etwa sieben Millionen Mitglieder vertrat, die Zentrale von Anatolien, wo Hadschi Bektasch begraben liegt, nach Tirana zu verlegen. Der „Groß-Dede“ Salih Nijazi traf 1930 in der albanischen Hauptstadt ein. Ein großes Porträt von ihm hängt heute in der Tekke von Tirana. Er wirkt versponnen, abwesend. Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde er ermordet. Ob er einem Anschlag von albanischen Partisanen, von Soldaten der italienischen Besatzungsmacht oder von Straßenräubern zum Opfer fiel, ist bis heute umstritten. Sein Nachfolger Kamber Ali Prishta wurde von den kommunistischen Partisanen, die im November 1944 in das von den Deutschen geräumte Tirana einzogen, ins Gefängnis geworfen, wo er schon bald verstarb.
„Das hier ist mein interessantester Vorgänger“, sagt Haxhi Rexhat Bardhi, der siebte und nun amtierende albanische „Groß-Dede“, und zeigt auf ein großes Porträt, das die obere Hälfte eines riesigen alten Holzschranks abdeckt. Der Mann mit dem wallenden weißen Bart, dem zwölfzackigen Stern an der Halskette (in Erinnerung an die zwölf von den Schiiten verehrten Imame) und den auffallend abstehenden Ohren heißt Abbas Hilmi. Er wurde im September 1945 „Groß-Dede“. Im März 1947 erhielt er Besuch von zwei „Baba“. Sie verlangten eine Reform der Bektaschiyya: Der „Groß-Dede“ möge den Derwischen erlauben, sich zu rasieren, sich in der Öffentlichkeit in Zivilkleidung zu zeigen und zu heiraten. Die beiden Gäste scheuten sich auch nicht zu sagen, in wessen Auftrag sie gekommen waren. Wenn er den Forderungen nicht stattgebe, erklärten sie, sei er ein Reaktionär und Gegner Enver Hoxhas. Die historisch verbürgte Antwort des „Groß-Dede“ waren zwei Schüsse, mit denen er die Emissäre tötete. Anschließend richtete er sich selbst.
Ahmed Myftar, sein Nachfolger – an ihn erinnert kein Porträt in der Tekke von Tirana – lud die Gläubigen ein, das Fest der „Ashure“, mit dem die zehntägige Trauerperiode des „Matem“ beendigt wird, im Haß auf die angloamerikanischen Imperialisten und in Liebe zur Volksmacht zu begehen. Ihm folgte der „Groß- Dede“ Fehmi, der die Porträtgalerie im Weltzentrum der Bektaschi um ein riesiges Stalin-Porträt bereicherte. Doch das nützte ihm nichts. 1967 ließ der albanische Diktator Enver Hoxha sämtliche Kichen, Moscheen und Tekke schließen. Die religiösen Stätten wurden zerstört oder als Sporthallen, Konferenzräume, bestenfalls als Museen für religiösen Obskurantismus zweckentfremdet. Aus der Tekke von Tirana wurde ein Altenheim.
„Einem jungen albanischen Maler gelang es, die Bilder gerade noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen“, berichtet Haxhi Rexhat Bardhi, „er ging ein riesiges Risiko ein.“ Dann erklärte sich Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt. 30 Jahre danach – sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes – stehen in Albanien landauf, landab wieder Hunderte von Moscheen, gebaut zumeist mit Geldern aus Saudi-Arabien, den Emiraten oder aus Malaysia. Auch Dutzende von Kirchen sind wieder geöffnet. Den Katholiken hilft der Vatikan aus, und der christlich-orthodoxen Minderheit im Süden des Landes die griechische Kirche. Die meisten der wenigen Priester und Popen kommen (noch) aus Italien und Griechenland. „Doch wer hilft uns?“ fragt Haxhi Dede Rexhat, der „Groß-Dede“, „wer hat schon von uns Bektaschi, der drittgrößten Religionsgemeinschaft Albaniens, gehört?“
Wohl seien einige Gelder von Exilalbanern aus Detroit gekommen, wo der jüngst im biblischen Alter von 96 Jahren verstorbene „Baba“ Rexhebi in den 50er Jahren die erste Tekke auf amerikanischem Boden gegründet habe. Einige wenige Tekke seien wieder instand gesetzt worden. Doch die größte Sorge des obersten Bektaschi ist der geistliche Nachwuchs: „Welcher junge Mann will heute noch im Zölibat leben?“ Als er den Gast verabschiedet, sitzen die beiden alten Derwische noch auf der Holzbank vor dem Portal und plaudern.s
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