■ Querspalte: Verbrüderungsorgie
Alles wird gut, das wissen wir spätestens seit Nina Ruge. Kanzler Kohl mag protestierende Studenten, die Sozis entdecken ihre verbotene Liebe für die Besserverdienenden, und der letzte Staatschef der Sowjetunion steht auf amerikanisches Fastfood. Alle lieben sich, und alle sind glücklich.
Das neue Jahr erlebt einen vorläufigen Höhepunkt der weltweiten Verbrüderungsorgie. „Fünf Mark für den Liter Benzin kann okay sein, wenn das der Umwelt hilft“, sagt der deutsche Shell-Chef Rainer Laufs. Mit offenen Armen und einem geschmetterten „An mein Herz, Bruder!“ heißt Greenpeace den neuen Mitstreiter an der Ökofront willkommen. Die Deutsche Shell, Schrecken der Meere und der Ogoni, verabschiedet sich von ihrer Rolle als des politisch korrekten Deutschen liebstes Feindbild.
Doch wer ist dann schuld am Ozonloch, der Kriminalität, der Arbeitslosigkeit und dem ganzen anderen Mist? Ohne Sündenbock lebt es sich schlecht, also basteln wir uns einen neuen. Wie wär's mit den Rauchern? Rauchen ist anerkanntermaßen ungesund, verschmutzt also die Umwelt. Mit ihrem Qualm ruinieren Raucher die Gesundheit unschuldiger Nichtraucher – das ist eindeutig kriminell. Einzig der Zusammenhang zwischen Tabakgenuß und Massenarbeitslosigkeit ist noch unbewiesen.
Rauchen ist böse. Der neue Vorreiter der deutschen ökologischen Revolution, die Shell, hat das als erster begriffen: Auf den Tankstellen ist das Rauchen schon lange verboten. Andernorts zieht man jetzt nach. Tabak wird aus kalifornischen Kneipen verbannt und als Scheidungsgrund anerkannt. Weil sie häufiger krank sind, soll rauchenden englischen Arbeitnehmern jetzt das Gehalt gekürzt werden.
Das Feindbild ist also gerettet – vorläufig. Irgendwann werden auch die Nikotinterroristen in den Schoß der Gesellschaft zurückkehren. Oder sie werden ganz subversiv, wandern nach Afrika aus und gründen ihren eigenen Staat. Come to Marlboro Country. Sascha Borrée
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