Erst Gotteslästerung, dann Untergang

Heute vor zehn Jahren leitete die SED mit der „Luxemburg-Affäre“ ihren eigenen Untergang ein. Nach der Verhaftung bekannter Oppositioneller wurde die DDR-Bürgerbewegung endgültig zur einflußreichen Kraft  ■ Von Hubertus Knabe

Für die SED war es „wie eine Gotteslästerung“. Am 17. Januar 1988 hatten Ausreiseantragsteller, zusammen mit einer Handvoll Berliner Oppositioneller, den Plan gefaßt, mit eigenen Transparenten an der jährlichen „Kampfdemonstration“ für die ermordete Kommunistin Rosa Luxemburg teilzunehmen. „Keine Kirche“, so der PEN-Vorsitzende der DDR, Heinz Kamnitzer, im Neuen Deutschland, „würde das hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen Kardinal oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet.“

Die „Störung“ bestand darin, daß man die Gründerin der KPD selbst zu Wort kommen lassen wollte: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ stand auf einem der Transparente. Allein der Plan, ihn den Mitgliedern des Politbüros vor Augen zu halten, führte dazu, daß am Morgen vor den Türen der Berliner Bürgerrechtler die Stasi aufzog und mehr als 100 Ausreisewillige ins Gefängnis Rummelsburg kamen. Auch sechs Oppositionelle, darunter der Liedermacher Stephan Krawczyk, waren von der Straße weg verhaftet worden. Damit begann ein Konflikt, von dem sich die Führung der SED bis zu ihrem Abgang nie wieder erholte.

Um die Bedeutung dieser Zäsur für die DDR-Geschichte richtig zu begreifen, muß man zurückgehen bis zum Herbst 1987. Damals wähnte sich Erich Honecker auf dem Höhepunkt seiner Macht: In Bonn war er soeben mit allen Ehren empfangen worden, die SPD hatte die SED als „Dialogpartner“ akzeptiert, und auch die evangelischen Kirchen waren zahm geworden wie nie. Nur einige Basisgruppen störten den Frieden und opponierten gegen den „Sozialismus in den Farben der DDR“. Größtes Ärgernis in den Augen der Staatssicherheit: die illegale Zeitschrift Grenzfall, gefolgt von den Auftritten des Liedermachers Stephan Krawczyk. Um die Kritiker in ihre Schranken zu verweisen, stürmte die Staatssicherheit Ende November die Berliner Umweltbibliothek, wo sie die Aktivisten auf frischer Tat beim Drucken erwischen wollte. Doch der Druckbeginn hatte sich verzögert, der Stasi fehlten die Beweise. Nach einer beispiellosen Protestwelle mußten die Inhaftierten wieder freigelassen werden – eine bislang nicht dagewesene Niederlage der Obrigkeit.

Der Aufruf zur Teilnahme an der Luxemburg-Demo bot die Möglichkeit zur Revanche. Das sonst eher zögerlich gewordene Politbüro, das bei den zeitgleich laufenden KSZE-Verhandlungen in Wien auch unter den Bruderstaaten immer mehr in die Isolation geriet, gab der Stasi Rückendeckung für eine entschlossene Reaktion. Die alten Herren waren empört über die Verletzung eines kommunistischen Sakrilegs.

Die Opposition war durch die Verhaftungen in eine schwierige Lage gekommen. Die Ausreisewilligen, die die Gruppen in den letzten Wochen zunehmend überschwemmt hatten, wollten nicht die DDR verändern, sondern ihr den Rücken kehren. Viele von ihnen empfand man als Trittbrettfahrer, die das Anliegen der Bürgerrechtler in Mißkredit brachten. Nicht einmal in der grundlegendsten Forderung war man sich mit ihnen einig: Freilassung aller Gefangenen – ja; aber in die DDR oder in den Westen?

Die Reaktion der Gruppen fiel deshalb unentschlossener aus als beim Sturm auf die Umweltbibiliothek. Es gab Informationsandachten und Protesterklärungen – aber keine Mahnwachen. Um keine weiteren Festnahmen zu provozieren, sollte eine Eskalation unbedingt vermieden werden. Verzweifelt wandte sich deshalb Krawczyks Frau, die Regisseurin Freya Klier, in einem Video-Appell an die Künstler in Westdeutschland und rief zum Kulturboykott der DDR auf. Nun setzte eine zweite Verhaftungswelle ein, der nicht nur sie selbst, sondern eine Reihe wichtiger Leitfiguren der Opposition wie Bärbel Bohley oder Wolfgang Templin zum Opfer fielen.

Die Entscheidungsabläufe bei der weiteren Entwicklung sind immer noch nicht ganz aufgeklärt. Einen Tag nach den neuerlichen Verhaftungen stimmt das Politbüro einer „Information über landesverräterische Beziehungen mehrerer Personen und eingeleitete Maßnahmen“ zu, die Mielke eingebracht hatte. Den inhaftierten Oppositionsvertretern wird jetzt der Vorwurf der Agententätigkeit gemacht – Höchststrafe: zehn Jahre Haft. Die Gefangenen werden massiv unter Druck gesetzt. Templins Kinder sind ins Heim eingewiesen worden. Gleichzeitig wird den Oppositionellen durch der Stasi verpflichtete Anwälte und Kirchenverteter „angeboten“, vorübergehend ins Ausland zu gehen. Außerdem macht Bonn Honecker „erhebliche finanzielle Angebote“ und erklärt sich bereit, alle Ausreisewilligen aufzunehmen.

Draußen entsteht nun doch noch die breite Welle des Protestes, die vorher ausgeblieben war. Nur: Die Gefangenen erfahren davon nichts und entscheiden sich einer nach dem anderen für die Ausreise als kleineres Übel. Klier und Krawczyk machen den Anfang, dann folgen die anderen – einige erst nach der Zusage, daß sie später wieder zurückkehren dürfen. Der verbleibende kleine Rest wird freigelassen. Die Protestaktionen, die sich inzwischen bis in die Provinz verbreitet haben, brechen schlagartig zusammen. „Der Ausgang der Luxemburg-Affäre ist deprimierend“, heißt es wenig später in den Umwelt-Blättern, „mußten denn unsere Leute gehen, konnten sie nicht mindestens den Prozeß oder die Haftzeit abwarten?“

Und dennoch: Trotz des Fiaskos für die Opposition wurde die DDR nie wieder so, wie sie vorher gewesen war. Die Parteimitglieder verstanden nicht, warum vermeintliche Landesverräter oder bereits rechtskräftig wegen „Zusammenrottung“ Verurteilte mit einem Auslandsstipendium belohnt wurden. Die Ausreisewilligen sahen, daß nicht stilles Abwarten, sondern entschlossenes Handeln der schnellere Weg in den Westen war. Die Gruppen lernten, daß man den offenen Konflikt mit der Macht durchaus überstehen konnte und die Stasi das Land nicht mehr wie früher im Griff hatte. Der Angstmechanismus, mit dem die SED seit 40 Jahren regierte, war gebrochen. Die Diktatur, die nach außen keine mehr sein wollte, befand sich auf dem Weg in den Abgrund.

Hubertus Knabe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gauck-Behörde

Heute um 14.00 Uhr erinnert eine Veranstaltung in der Berliner Samariterkirche, Samariterstraße 27, an den 17. Januar 1988. Teilnehmer sind u.a. Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld und Wolfgang Templin.