: Problemviertel in der Innenstadt keine Ausnahme
Das Gutachten „Soziale Stadtentwicklung“ ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie sich die soziale Polarisierung in Berlin im Stadtraum widerspiegelt. Es ist aber auch eine Kritik an der Politik des Senats sowie den herkömmlichen Methoden der Stadterneuerung ■ Von Uwe Rada
Was im ordnungspolitischen Vokabular von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) oft als „gefährlicher Ort“ bezeichnet wird, deckt sich sozial und räumlich nicht selten mit dem, was Stadtsoziologen „problembehaftete Gebiete“ nennen.
Die Soldiner Straße in Wedding etwa ist ein solcher Armutskiez. Eine Überbelegung der Ein- und Zweiraumwohnungen im Gebiet ist dafür ebenso ein Hinweis wie die schlechte Wohnausstattung oder die illegale Unterbringung von Bürgerkriegsflüchtlingen in privaten Wohnpensionen. Als weiteres Beispiel für ein benachteiligtes Quartier wird im Gutachten des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann das Gebiet Schöneberg Nord genannt. Rund um die nördliche Potsdamer Straße, die Pohl- und die Kurfürstenstraße sei ein zunehmender Wegzug deutscher wie türkischer Familien zu beobachten, während die Verwahrlosung des Wohnumfeldes, Drogenszene und die Aktivitäten von Jugendbanden zunähmen.
Allein sechs solcher Problemkieze nennt das Gutachten in Westberlin. Was dem Beusselkiez in Moabit, der Soldiner Straße und dem Sparrplatz in Wedding, ganz Kreuzberg 36, Schöneberg Nord und Neukölln Nord gemeinsam sei, sei vor allem eine hohe Fluktuation der Bewohner, hohe Arbeitslosigkeit und Sozialhilfedichte sowie der Wegzug von Familien und Erwerbstätigen bei gleichzeitigem Zuzug von Migranten. Der bauliche Zustand, so Häußermann, spiele dabei nur eine geringe Rolle. Eine „Beschleunigung der Abwärtsentwicklung“ gebe es auch in sanierten Altbauquartieren und ehemaligen Sanierungsgebieten wie in Kreuzberg 36.
Daß die Existenz sozialer Problemgebiete keine Ausnahmeerscheinung, sondern nur die Spitze eines Eisberges ist, verdeutlicht Häußermanns Prognose für die Westberliner Innenstadtquartiere insgesamt. Mit Ausnahme von Charlottenburg und Wilmersdorf sei hier die „höchste Dynamik“ zu verzeichnen. Im Klartext: Der Wegzug von Besserverdienenden und Familien setzt sich mehr denn je fort. Zurück bleiben Arme, Arbeitslose, Ausländer. Sämtliche Quartiere entwickelten sich „in die Richtung weiter, die bereits vor der Wende angelegt war“.
In den Ostberliner Altbaugebieten – von der Bevölkerungsstruktur wesentlich gemischter als in Westberlin – deutet sich nach den Untersuchungen der Gutachter inzwischen eine ähnliche Entwicklung an. Zwar sei in der Spandauer Vorstadt und rund um den Kollwitzplatz eine deutliche Aufwertung zu beobachten. Derartige „Gentrifizierungen“ blieben aber sehr kleinräumig und darüber hinaus die Ausnahme. Statt dessen zeichne sich auch in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ein Abwanderungs- und Verarmungsprozeß ab – einschließlich der Herausbildung „problembehafteter Gebiete“. Als „Verdachtsgebiete“ gelten hier insbesondere die Rosenthaler Vorstadt in Mitte, der Arnim- und Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg sowie der Boxhagener Platz in Friedrichshain. Einschließlich der „sozialen Entmischung“ und dem „Abkippen“ der Großsiedlungen in Ost- und Westberlin schlägt sich damit die zunehmende Spaltung auf dem Arbeitsmarkt und die soziale Polarisierung deutlicher denn je im städtischen Raum nieder. Als Gründe für diese sozialräumlichen Segregationsprozesse nennt Häußermann aber nicht nur die steigende Fluktuation (18 Prozent in den Westberliner Innenstadtquartieren) und die zunehmende Umlandwanderung (vor allem aus Ostberlin), sondern auch eine Politik der Großprojekte, die sich nachteilig auf die Bevölkerungsmischung ausgewirkt habe. Häußermanns Gutachten ist deshalb sowohl eine Kritik an den starren und überholten Instrumenten der „behutsamen Stadterneuerung“ als auch eine Warnung. Durch den Bau des Potsdamer Platzes oder des Lehrter Bahnhofs – die eigentlich „gefährlichen Orte“ in Berlin – drohen soziale und räumliche Polarisierungen auch in Gebieten, die davon bislang verschont geblieben waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen