: Scherf der Länge nach umgefallen
■ Henning Scherf (SPD) stimmt für den Großen Lauschangriff / Bremer CDU für Vermittlungsausschuß
Bremens Bürgermeister und Justizsenator Henning Scherf (SPD) hätte Geschichte schreiben können. Sein „Nein“im Bundesrat zur Grundgesetzänderung hätte den Großen Lauschangriff blockiert. Doch als gestern vormittag um kurz nach elf Uhr die Bundesländer über die Änderung des Artikel 13 („Unverletzlichkeit der Wohnung“) abstimmten, verhalf Scherf dem Antrag zu der erforderlichen Zweidrittelmehrheit.
Am Abend zuvor hatte sich die Große Koalition auf einen Kompromiß geeinigt: Scherf spricht sich für Grundgesetzänderung aus, die Bremer CDU stimmt dafür, daß der Vermittlungsausschuß angerufen wird. Dort soll darüber verhandelt werden, ob Ärzte, Anwälte und Journalisten künftig vor Wanzen sicher sind.
Er sei jetzt „bereit“, seine „persönlichen grundsätzlichen Bedenken zurückzustellen und der Grundgesetzänderung zuzustimmen, allerdings in der Verknüpfung mit unabdingar erforderlichen Nachbesserungen bei den Ausführungsgesetzen“, erklärte Scherf gestern im Bundesrat. Scherf hat seine Zustimmung zum Grundgesetz allerdings nicht von den Nachbesserungen abhängig gemacht, auch wenn dieser Satz anders klingt. Er hat erreicht, daß im Vermittlungsausschuß über die Nachbesserungen zum Lauschangriff verhandelt wird. Was dabei herauskommt, überläßt Scherf der dortigen Mehrheit. Anstatt abzuwarten, was bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuß herauskommt, hat er seinen Faustpfand, die Änderung des Grundgesetzes zu verhindern, schon vorher aus der Hand gegeben. Ob die „unabdingbaren Nachbesserungen“tatsächlich durchgesetzt werden, ist höchst fraglich: Im Vermittlungsausschuß gibt es zur Zeit keine Mehrheit für die Scherfschen Änderungswünsche. Deshalb konnte die Bremer CDU der Anrufung des Vermittlungsausschusses auch gelassen zustimmen. CDU-Bürgermeister Perschau betonte gestern noch einmal, daß er keinen Grund für Nachbesserungen sieht. Im Gegenteil. Der gefundene Kompromiß sei ein „Minimalkonsens“.
Doch selbst wenn sich der Vermittlungsausschuß darauf einigen sollte, Ärzte, Anwälte und Journalisten vor Wanzen zu schützen, kann der Bundestag diese Änderung mit den Stimmen der CDU, CSU und der FDP wieder rückgängig machen. Nur wenn sich die kritischen Stimmen in der FDP mehren und zu einer Korrektur der bisherigen FDP-Position führen, könnten die Ausführungsgesetze zum Großen Lauschangriffs noch geändert werden.
Im Moment sieht es also ganz so aus, als würde der Große Lauschangriff so umgesetzt, wie er vom Bundestag am 16. Januar in erster Lesung beschlossen wurde: Scherfs Auftritt wäre medienwirksam, aber wirkungslos. Scherf berief sich gestern im Bundesrat auf Bremens Geschichte. „Ein kleiner Staat wie Bremen darf nie als ein Hindernis des Wohlergehens der Gesamtheit der Nation erscheinen“, zitierte er Arnold Duckwitz, der 1848 dem Vorparlament in Frankfurt angehörte und Senator in Bremen war. „Wir Bremer streiten und sind streitbar, aber uns leitet keine andere Rücksicht als die auf das gemeinsame Beste“, bemühte Scherf auch den ehemaligen Bürgermeister Theodor Spitta, der zu den bedeutendsten Vertretern des politischen Liberalismus in Deuschland gehörte. Mit anderen Worten: Scherf will von Bremen aus nicht die Welt regieren. Anstatt Geschichte zu schreiben, rettet er lieber die Große Koalition. Auf diese Weise hat sich bewahrheitet, was Scherf in einem Gastkommentar (vgl. taz 10.6.94) zum Großen Lauschangriff prophezeit hatte: „Eine SPD, die zu konservativen Lösungen greift, und die nicht zuletzt von ihr selbst in einem 150jährigen Kampf errungenen Freiheitsrechte für ein vermeintliches Mehr an innerer Sicherheit opfert, gibt sich selbst auf. Erkennt sie obendrein die Richtigkeit konservativer Rezepte an, treibt sie den Konservativen die Wähler zu. Dabei werden die sich ins Fäustchen lachenden Konservativen zu Igeln, die die Sozialdemokraten in die Rolle des Hasen drängen, der sich im Wettstreit erschöpft, aber dennoch nie gewinnen kann.“
Kerstin Schneider
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