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■ NachschlagPassionstanz: José Luis Sultáns „Kaddish“ am Halleschen Ufer

An einem Haken wird José Luis Sultán auf die Bühne herabgelassen. Da ist seine Identität schon zerstückelt, ohne Bewußtsein seiner selbst. Nur die Furcht vor den Bildern, die seinen Körper bedrängen, besetzen und wie eine widerstandslose Puppe in verschiedene Rollen zwingen, hält ihn zusammen. Doch welche Rolle er auch annimmt, die des spielenden Kindes oder der Frau, die um ihr Leben tanzt und ihrem Bewacher die Stiefel leckt, er hat keine Chance, er kann es nicht richtig machen: Immer wird er bestraft werden. Daß es in seinem Vorstellungsvermögen keine Figur mehr gibt, die einen Ausweg böte, ist das Schlimmste. Wie die Stationen eines Kreuzweges reiht der argentinische Tänzer José Luis Sultán in „Kaddish“ Bilder des Konzentrationslagers auf: der Weg ins Lager, die Eisenbahn, Folterung, Hunger, Demütigung, das Bad. Er nimmt die Erinnerungen an das Sterben und die Verwüstungen der Seele wie eine Passion auf sich: Und wir sitzen da wie die Sünder (und Komplizen der Folterknechte), für deren Erlösung er sich opfert.

„Kaddish“ ist ein furchtbares Stück, in doppeltem Sinn: Denn mehr noch als mit dem, was Sultán erzählt, leidet man an der Wucht des Themas und der symbolischen Überfrachtung. Der Weg aus Steinen, die Schuhe, die Koffer, die abgeschnittenen Haare, die Dornenkrone aus Stacheldraht, die Seifenstücke, die er wie Grabsteine aufstellt: Jedes Detail aus diesem Bühnenbild ruft unser Wissen über die Geschichte der Vernichtung und zugleich unsere Abwehr auf. Denn sie sind zu Klischeebildern des Holocaust geworden, die nicht mehr als naturalistische Requisiten taugen. Auf der Bühne angehäuft, verkommen sie zur Formel, zum Horroreffekt.

Sultán hat mit der französischen Choreographin Karine Saporta, mit Ismael Ivo und Hans Kresnik zusammengearbeitet. „Kaddish“, 1996 in Stuttgart uraufgeführt, erinnert an dessen Vorliebe für expressive, plakative Bilder und den Gestus der großen persönlichen Betroffenheit, der dem Zuschauer die Rolle stummen Entsetzens zuschreibt. Das ist nicht erkenntnisfördernd. Katrin Bettina Müller

Bis 8.3., 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32)

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