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Das Waterloo der afghanischen Taliban

Im Norden Afghanistans erlitten die Radikalislamisten ihre schwerste Niederlage. Mit Tausenden ihrer Kämpfer starb auch der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit. Im Vergleich zu Kabul geht es den Menschen hier gut  ■ Aus Masar-e Scharif Ahmad Taheri

Esatollah, auf deutsch „Macht Gottes“, ist ein Mann des afghanischen Geheimdienstes. Der 36jährige, hagere Tadschike hat schon unter dem Kommunismus als Sicherheitsbeamter gearbeitet. Nach dem Sturz von Nadschibullah im Jahr 1992 wurde er ein Parteigänger von General Dostum. Jetzt ist er dem Außenministerium zugeordnet und „betreut“ Journalisten aus dem Westen. Von Esatollah begleitet zu werden ist durchaus nützlich. Der Mann kennt sich von Amts wegen bestens in den Winkelzügen der afghanischen Politik aus. Und er geizt nicht mit seinen Insider-Informationen. Von ihm erfährt man, wer gerade gegen wen das Messer wetzt. Außerdem kennt Esatollah die besten Kebabbuden der Stadt und paßt auf, daß der fremde Gast von Taxifahrern oder Ladenbesitzern nicht übers Ohr gehauen wird. Mit der beflissenen Hilfsbereitschaft des Geheimdienstlers hat es seine eigene Bewandnis: Er hofft auf ein ansehnliches Bakschisch. Sein Gehalt von 300.000 Afghani, etwa fünf US-Dollar, reicht bei weitem nicht aus, um seine vierköpfige Familie zu ernähren.

Schon am frühen Morgen hängt sich Esatollah im Hotel Barat, einer schäbigen Herberge, ans Telefon, um mit den mächtigen Männern der nordafghanischen Stadt Verabredungen zu treffen. Auf dem Weg zum Büro der Harekat-e Islami, der „Islamischen Bewegung“, der zweitgrößten schiitischen Partei Afghanistans, fragt Esatollah artig, ob er bei dem Gespräch dabeisein dürfe, da er seinem Chef „irgend etwas“ erzählen müsse. Vor dem Parteibüro, einem zweistöckigen Ziegelbau, stehen junge Männer mit Kalaschnikows und asiatischen Gesichtern. Sie sind Hisara-Kämpfer, Schiiten mongolischer Herkunft aus Zentralafghanistan.

Hodschatolislam Mohammad Taher Modarrasi, der Sprecher der Harekat, erwartet den Gast in seinem Amtszimmer. Auf dem Tisch stehen Süßigkeiten und grüner Tee, an der Wand hängt das Bild des Führers der Gruppe, Ajatollah Mohseni, der zur Zeit im iranischen Qom Hadith die prophetische Überlieferung lehrt. Modarrasi sitzt auf einer buntgeblümten Couch und ist wie ein iranischer Mullah gekleidet. Sein schwarzer Turban weist ihn als Saijed, als Nachkommen des Propheten aus.

„Ich bin ein Araber“, sagt er, „meine ehrwürdigen Vorfahren haben Afghanistan für den Islam gewonnen.“ Der 32jährige Mullah erweist sich als Frauenrechtler. „Das größte Verbrechen der Taliban ist die Entrechtung der Frauen. Das ist eine unverzeihliche Beleidigung des afghanischen Volkes.“ Dann erzählt Modarrasi von den Kämpfen um Masar-e Scharif im vergangenen Jahr. Die Schiiten hätten die Stadt vor den Taliban gerettet. „Ohne sie wäre jetzt ganz Afghanistan an diese Barbaren verloren.“ Seine Glaubensgenossen seien die besten Kämpfer der Welt, denn: „Das geben selbst die Amerikaner und die Sunniten zu.“

Jahrhundertelang waren die Hisara, die heute 20 Prozent der 18 Millionen Afghanen bilden, als religiöse und ethnische Minderheit die Parias der afghanischen Gesellschaft. Doch während des Widerstands gegen die sowjetischen Besatzer in den 80er Jahren gelang es ihnen, sich unter den anderen Völkerschaften am Hindukusch zu behaupten. Dennoch gingen sie nach dem Sieg des Islam über den Kommunismus leer aus, was zu blutigen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Kabul führte. Seit vergangenem Mai sind die Hisara die führende Macht im afghanischen „Nordreich“. Ihr Aufstieg hat eine blutige Geschichte: Im Mai 1997 öffnete Abdul Malek, ein junger General usbekisch-paschtunischer Herkunft, für viel Geld und das Versprechen, zum Herr des Nordens gekürt zu werden, den Taliban die Tore von Masar-e Scharif. Der damalige Herrscher, General Abdulraschid Dostum, rettete sich ins türkische Exil. „Es war wie ein Alptraum, diese Wilden aus dem Süden in unserer Stadt zu sehen“, sagt die Volksschullehrerin Fatima Badachschi. „Keine Frau verließ an diesem Tag das Haus. Wir wußten, was mit unseren Schwestern in Kabul geschehen war.“

Der Siegeszug der Koranschüler durch das afghanische Bergland schien vollendet. Doch der Triumph der Taliban war von kurzer Dauer. Als sie kurz nach ihrer Ankunft versuchten, im Stadtteil Saidabaddie Hisara zu entwaffnen, stießen sie auf Widerstand. Bald war Masar-e Scharif ein einziges Schlachtfeld. Selbst Hisara-Frauen griffen in die Kämpfe ein. So mancher paschtunische Eiferer aus dem Süden wurde von den Töchtern Dschingis-Khans „mit bloßen Händen in Stücke gerissen“, erzählt ein Augenzeuge. Angesichts des Volksaufstandes blieb Abdulmalek, dem verräterischen General, nichts anderes übrig, als sich auf die Seite der Bevölkerung zu schlagen. Zwei- bis dreitausend Taliban fanden im hohen Norden den Tod. Außerhalb der Stadt liegen heute ihre Leichen in Massengräbern.

Vier Monate später griffen die paschtunischen Koranschüler zusammen mit ihren paschtunischen Stammesgenossen, die im Norden eine Reihe von Enklaven bilden, die Stadt erneut an. 28 Tage dauerten die Kämpfe um Masar-e Scharif. Inzwischen war auch Dostum aus dem türkischen Exil zurückgekehrt, um „das Vaterland zu retten“. Er trommelte seine versprengten Milizionäre zusammen, um gegen die Taliban vorzugehen. Doch auch dieses Mal trugen die Schiiten die Hauptlast der Verteidigung. „Ich war am Flughafen, als sie kamen“, sagt Mansur, ein 15jähriger Hisara-Junge. Seine Kalaschnikow ist mit bunter Plastikfolie überzogen. Er habe selbst zehn Taliban zur Hölle geschickt, erzählt er strahlend.

Noch vor einem Jahr war General Dostum der uneingeschränkte Herrscher des Nordens. Sein Konterfei schmückte die Straßen von Masar-e Scharif. „Padeschah“, König, nannte ihn die Bevölkerung. Heute ist Dostum nur noch ein „Löwe ohne Zähne und Krallen“, wie ein tadschikischer Lehrer sagt. Seine Hausmacht ist zusammengeschrumpft, sein Waffenarsenal von den Hisara erbeutet. Meist hält sich der General in seiner Geburtsstadt Schabargan, drei Stunden westlich von Masar-e Scharif, auf. Der neue starke Mann in der „Hauptstadt der islamimschen Regierung Afghanistans“, wie die Anti-Taliban-Allianz sich nennt, ist Muhammad Mohaqqeq. Er ist der Innenminister im Kabinett des von den Taliban aus Kabul vertriebenen Staatspräsidenten Burhanuddin Rabbani. Mohaqqeq ist der lokale Führer der Wahdat, der mächtigsten aller schiitischen Kampfgruppen Afghanistans. Doch er verdankt seine Stellung nicht nur dem Kampfgeist seiner Truppen, sondern auch der Bruderhilfe aus dem Reich der Ajatollahs. Der Löwenanteil der iranischen Waffen, die Masar-e Scharif erreichen, landen in den Zeughäusern der Wahdat.

Das geräumige Vorzimmer des Ministers ist von Besuchern überfüllt. Fast jeder hält einen Beschwerdebrief in der Hand. Sein Dorf sei überfallen worden, klagt ein weißbärtiger Mann. Die bewafneten Männer hätten alles mitgenommen. „Keine Sorge“, tröstet ihn der wachhabende Offizier, „wir werden die Banditen finden und aufhängen.“ Während in Masar-e Scharif die öffentliche Sicherheit einigermaßen wiederhergestellt worden ist, nachdem monatelang bewaffnete Gruppen die Bevölkerung terrorisiert haben, treiben in der Umgebung der Stadt marodierende Banden weiterhin ihr Unwesen. „Kürzlich“, erzählt Esatollah, der Geheimdienstler, „wurde einem japanischen Journalisten auf dem Weg in die Stadt alles weggenommen, Geld, Reisepaß, Flugticket, Kamera und sogar seine warme Jacke.“ Das Rote Kreuz habe ihm geholfen, wieder nach Hause zu kommen.

Verglichen mit Kabul geht es der Bevölkerung in Masar-e Scharif noch relativ gut. Anders als in der Hauptstadt der Taliban sieht man hier selten bettelnde Menschen. Die Gehälter sind zwar niedrig, die Preise hoch, doch über Hunger beklagt sich niemand. Viele Menschen, so heißt es, zehren von ihren Reserven aus besseren Zeiten. Im Basar rund um die Grabmoschee von Ali, wo angeblich der Vetter und Schwiegersohn des Propheten ruht, herrscht reger Betrieb. Die Läden sind mit Waren gefüllt. Doch den Masaris sitzt die Angst vor der Zukunft tief in den Knochen. Wilde Gerüchte kursieren. In Schabargan rüste sich Dostum, um die verlorene Macht zurückzugewinnen, heißt es. Werden die verschiedenen Parteien der nördlichen Allianz demnächst aufeinander losgehen wie einst in Kabul die Mudschaheddin-Gruppen? Der Einigkeit der afghanischen Führer traut keiner. Ihr Hang zu Mißgunst und Neid, ihre Machtgier und Zwietracht ist sprichwörtlich. Vor den Taliban indes fürchtet sich zur Zeit niemand. Der Mythos ihrer gottgewollten Unbesiegbarkeit ist mit ihren Leichen begraben worden.

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