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Phänomenales Ei im Gehirn

Peter Brook inszeniert mit „Je suis un phénomène“ eine Recherche zur phantastischen Erinnerungswelt des russischen Gedächtniskünstlers Shereshevsky, der in den dreißiger Jahren sein ungewöhnliches Talent in einem Moskauer Zirkus zur Schau stellte  ■ Von Jürgen Berger

Paris, Ecke Rue du Faubourg, Boulevard de la Chapelle. Rund um den Gare du Nord wimmelt es von indischen Geschäften, Katzengold und Saris glitzern. Plötzlich allerdings ist da ein unscheinbares Holztor, hinter dem sich eigentlich nur das Treppenhaus eines Wohnhauses verbergen kann. Im Inneren dann die Überraschung: Peter Brooks Théatre des Bouffes du Nord, einer der berühmtesten europäischen Theaterräume, den der freundliche Altmeister seit Anfang der 70er Jahre als „Centre Internationale des Recherches Theatrales“ betreibt.

Man meint, in einer zum Barocktheater umfunktionierten Citykapelle gelandet zu sein, deren Wände bloßlegt wurden und die mit ihrer stierblutroten Patina den Charme zerbröselnder Noblesse ausstrahlt. Eine immer gleichbleibende Kulisse in Brooks Inszenierungen. Davor gibt es noch das obligatorische magische Spielquadrat und die notwendigsten Requisiten, mehr braucht es nicht.

In der neuesten theatralischen Recherche „Je suis un phénomène“ sind das: ein Tisch, ein Stuhl und hochkannt gestellte Sony-Monitore auf Podesten. Der knapp zweistündige Abend über einen Mann, der zu Recht von sich behaupten konnte, er sei ein Phänomen, ist eine Fortsetzung des inzwischen legendären „L'homme qui“ nach Oliver Sacks; wieder geht es um Geschichten aus der Black box namens „Gehirn“. 1980 inszenierte Brook ein Ensemble von Figuren mit neurologischen Defekten, die sich zwar sprunghaft „anormal“ verhalten, damit aber mehr über zerebrale Phantasieräume preisgeben, als „normales“ Verhalten jemals leisten könnte. Jetzt widmet sich Brook einem einzigen berühmten Fall der Medizingeschichte.

Es geht um die Biographie von Solomon Veniaminowitsch Shereshevsky, einem berühmten Gedächtniskünstler aus dem Moskau der 30er Jahre. Er galt als einer der wenigen Erinnerungsgenies, die nicht logische Zusammenhänge punktgenau im Gedächtnis behielten, sondern mit einem phänomenalen Übersetzungsvermögen gesegnet/gestraft waren: Jeder Laut eines Wortes oder einer Zahl führte zu synergetischen Wahrnehmungssensationen in seinem Gehirn, die sich augenblicklich und unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrannten.

Noch nach Jahren konnte er komplizierte Zahlenkolonnen oder Texte fehlerfrei abrufen, da er sie wie farbige Gerüche wahrnahm und in Sekundenschnelle als Bilder abspeicherte, in denen sich für ihn diese Gerüche spiegelten. Diese Bilder wiederum ordnete er dann in einer Art innerer Galerie an und wanderte sie schnüffelnd ab. Das Verfahren war allerdings auch äußerst störanfällig: Sprach jemand zum Beispiel verwaschen, breiteten sich auf seinem Erinnerungsbild plötzlich schwarze Flecken aus.

Eine Figur, wie für das Theater erfunden. Peter Brook, der zusammen mit Marie-Hélène Estienne ein Szenarium nach Alexander Romanowitsch Lurias „Kleines Portrait eines großen Gedächtnisses“ zusammenstellte, geht es neben dem psychischen Phänomen in erster Linie um die außergewöhnliche Figur – und um den Neurologen Luria, der um 1930 damit begann, den Gedächtniskünstler zu untersuchen, und der daran arbeitete, die moderne Neuropsychologie aus der Taufe zu heben. Shereshevsky arbeitete damals als Reporter einer Moskauer Zeitung, wußte nichts von seiner außergewöhnlichen Begabung und trat noch nicht in Shows auf.

Zwischen dem Gehirnforscher und dem wohl interessantesten Fall seines Medizinerlebens entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, die auch Angelpunkt in Brooks Inszenierung ist. Auf dem Spielquadrat der Bouffes du Nord erscheinen ein kleiner, schüchterner Gedächtniskünstler und ein zurückhaltender Wissenschaftler in der Version des Menschenliebhabers. Der eine ist Maurice Benichou als Shereshevsky, ein naives Kind, das zeit seines Lebens Probleme mit dem phänomenalen Ei hatte, das ihm da zufällig ins Gehirn gelegt wurde.

Der andere ist Bruce Myers als Luria, der mit Shereshevsky zugleich einem kuriosen Fall und Menschen gegenübersteht und fernab jeder positivistischen Isolierung von Einzelschicksalen ein Gespür für dessen Innenwelt entwickelt. Benichou und Myers sind langjährige Brook-Schauspieler, und es reicht eigentlich, den beiden zuzusehen: wie Benichou die Wahrnehmungssensationen des Shereshevsky als phänomenales Körperschauspiel entstehen läßt und dessen wohl unglaublichste Gedächtnisleistung, die Wiedergabe einer langen Reihe sinnlos alternierender Silben, aus sich heraus schleudert; und wie Myers als Luria emphatisch-distanziert diesen Erzählungen lauscht.

Daß neurologische Themen Stoff für großes Theater sein können, sah man schon in „L'homme qui“. In „Je suis un phénomène“ wird aus einem der schönsten Verse der Weltliteratur in der erinnerungstechnischen Verwandlung eine der witzigsten Szenen des aktuellen Theaters. Am 1. Dezember 1937, so beschrieb Luria die Virtuosität seines „Patienten“, wurde ihm während eines Zirkusauftritts eine schwere Aufgabe gestellt. Ein Zuschauer las ihm die ersten Verse aus Dantes „Göttlicher Komödie“ vor, und er sollte sie aus dem Stand wiederholen, obwohl er kein Wort italienisch sprach.

„Nel mezzo del cammin di nostra vita / Mi ritrovai par una selva oscura / ...“, ging es los, Shereshevsky hörte zu, sein Gedächtnis malte die italienischen Wortpartikel augenblicklich bildhaft aus und verband sie mit russischen Wortpartikeln, so daß er Dante im Handumdrehen rezitieren konnte. Das italienische „nostra“ etwa machte er zu „Ich sehe eine Nase (russ: nos); ein Mann ist mit der Nase in die Tür geraten und hat sie eingeklemmt (russisch: trawma – Verletzung)“. Und Benichou spielt die Selbstverständlichkeit des naiven Genies, das beschreibt, wie in seinem Hirn aus Dantes Versen eine zerebrale Umschreibungsorgie wurde.

Auf den Monitoren, die Brook als dreifaltige Videoinstallation einsetzt, spritzen in solchen Szenen die Wörter und bildhaften Verknüpfungen des Gedächtniskünstlers hervor, formen sich zu kaleidoskopischen Bilder, simulieren den Rhythmus der Sinnexplosionen im Gehirn. Der Effekt: Die rhythmischen Bildfolgen können für sich alleine bestehen, lenken aber auch vom puren Brook- Schauspiel ab, das Shereshevskys Erinnerungskunst noch einmal auferstehen läßt.

Der Zauber wäre der Welt wohl für immer verborgen geblieben, hätte der Chefredakteur der Moskauer Zeitung, bei der Shereshevsky als Reporter arbeitete, nicht Lunte gerochen und ausgerechnet den damals noch unbekannten Luria benachrichtigt. Der untersuchte den Gedächtniskünstler über Jahrzehnte hinweg und nahm auch dessen Aufzeichnungen in seinen Fallbericht auf – was Peter Brook wiederum wohl nie in die Hand gefallen wäre, hätte der nicht Oliver Sacks „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ in Szene gesetzt. Der russische Neuropionier ist Oliver Sacks' großes Vorbild, im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Fallberichts schreibt Sacks, Luria habe die Form des wissenschaftlichen Berichts weit hinter sich gelassen und ein literarisches Genre begründet. Sacks übertreibt da etwas, was Peter Brook und Marie-Hélène Estienne allerdings nicht daran hinderte, Lurias Szenarium theatralisch weiter zu spinnen und einen zweiten Arzt namens Brodsky auftreten zu lassen, den man sich als Vertreter eines stalinistischen Empirismus vorstellen muß und der den armen Shereshevsky immer wieder aufs Glatteis führt. Bakary Sangar spielt das unaufgeregt, guillotinierende Sätze wie „Zu was taugt ein Mensch wie dieser Shereshevsky überhaupt“ fallen nebenbei. Luria wurde in den 50er Jahren aus ideologischen Gründen entlassen und konnte erst nach Jahren seine Arbeit an einem Psychologischen Institut in Moskau wieder aufnehmen. Später emigrierte er nach New York, wo er 1977 starb.

In Brook/Estiennes Neuro-Libretto lädt Luria den Gedächtniskünstler nach New York ein, auf daß er dort noch einmal – westlich- ideologiefrei – durchleuchtet werde. Das Ergebnis allerdings ist dasselbe: Auch amerikanische Wissenschaftler sind lediglich am Phänomen und nicht am Menschen Shereshevsky interessiert, der unter der Rubrik „Menschen, Tiere, Sensationen“ weitergereicht und völlig aus der Bahn geworfen wurde. Da hilft es auch nicht, daß er im Théatre des Bouffes du Nord am Ende von euphorisierten US- Neurologen eine Schichtenaufnahme seines Gehirns präsentiert bekommt. Ein ironisches Theaterbild, denn was sind schon Bilder aus dem Computertomographen gegen die Bilder und Gerüche, die Shereshevsky wahrnahm. Entsprechend beiläufig nimmt Maurice Benichou das Geschenk auch in Empfang, und entsprechend uninteressiert sieht er sich die Querschnitte eines phänomenalen Hirns an.

Das wohl schönste Gedächtnisbild des Abends entsteht während eines Dialogs Shereshevskys mit seiner Frau (Geneviève Mnich), zu der der überforderte Gedächtniskünstler immer wieder wie ein verstörtes Kind flüchtet. Er fragt sie, was denn eigentlich „Nichts“ sei, worauf sie antwortet: „Eben nichts.“ Das könne aber nicht sein, entgegnet darauf Shereshevsky, schließlich würde das Wort „Nichts“ bei ihm ein Gedächtnisbild hervorrufen. Und dann stehen die beiden ziemlich ratlos da, während auf den Monitoren das „Nichts“ in Form von drei luftigen Gebilden erscheint, die sich wie Wolken verflüchtigen.

Peter Brook, Marie-Hélène Estienne: „Je suis un phénomène“. Regie: Peter Brook. Mit Maurice Benichou, Bruce Myers u.a. Théatre des Bouffes du Nord. Weitere Aufführungen: bis 30. Mai in Paris; vom 3. bis 14. Juni wird das Stück beim Kunstfest Weimar gastieren

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