: „Wir wollen wissen wer's war“
■ Mordfall Christina: Polizei führte im Kreis Cloppenburg den größten Massen-Gentest der Kriminalgeschichte durch / Tausende junger Männer gaben Speichelproben ab
Kruzifixe stehen an den Straßen, die ins Saterland führen. Osterglocken und Stiefmütterchen blühen in den Vorgärten der Dörfer Strücklingen, Ramsloh und Sedelsberg. An den Haustüren baumeln Strohkränze. Auf halbhohen Stalltüren dösen buntgescheckte Katzen. Fremde werden über den Gartenzaun mit „Moin“begrüßt. Doch seit dem Mord an der elfjährigen Christina N. aus Strücklingen ist die geordnete Welt der Saterländer aus den Fugen geraten.
„Sowas haben wir hier noch nie erlebt“, sagt der 23jährige Hendrik Glende. „Das ist der reinste Wahnsinn.“Der Schornsteinfeger ist einer von 18.000 Männern im Alter von 18 bis 30 Jahren, die von der Polizei am Donnerstag und Freitag zu einem Speicheltest aufgerufen worden sind. Bedenken gegen den größten Gentest der deutschen Kriminalgeschichte hat Glende nicht. „Das Mißtrauen hier ist groß. Der Täter muß so schnell wie möglich gefaßt werden“, sagt er. Einige seiner Freunde hätten für den Test sogar ihren Urlaub verschoben.
Vor dem Musiksaal des Schulzentrums in Ramsloh, deren Schülerin Christina war, steht der 19jährige André Geringe. „Ich will keinen Ärger haben“, sagt er. Ein Beamter bittet ihn in den Musikraum. Geringe legt seinen Personalausweis vor und unterschreibt eine Erklärung, die dem Landeskriminalamt erlaubt, von seinen Epithelzellen, die mit der Speichelprobe entnommen werden, einen genetischer Fingerabdruck anzufertigen. Diese DNA-Analyse soll mit dem genetischen Fingerabdruck des mutmaßlichen Mörders verglichen werden. Aufgrund eines genetischen Fingerabdrucks hält die Polizei es für erwiesen, daß es sich bei dem Mann, der Christina getötet hat, um den gleichen Täter handelt, der vor zwei Jahren im benachbarten Neuscharrel ein Mädchen vergewaltigt hat.
Ein Beamter gleicht Geringes Personalien mit dem Einwohnermelderegister ab und macht mit einem schwarzen Filzstift einen Haken hinter seinem Namen. Die Männer, die sich nicht melden, will die Polizei gesondert überprüfen. Geringe muß sich vor eine Wandtafel stellen. „Mund auf, Zunge nach hinten“, fordert ein Beamter ihn auf. Geringe öffnet den Mund. Der Beamte steckt ihm ein etwa 15 Zentimeter langes Wattestäbchen in den Mund und rollt die Mundhöhle ab. „Das war's schon“, sagt der Polizist, zieht das Watterstäbchen heraus und steckt es in ein Reagenzglas, das mit einem Code aus Geringes Daten beschriftet ist. Die Auswertung des Gentests wird Wochen dauern. Ob er jemanden kenne, der sich in der Gegend aufhalte, aber hier nicht gemeldet sei, wollen die Beamten wissen. Geringe schüttelt den Kopf.
Von Fernsehkameras umringt, steht Gerrit List, Sprecher der Sonderkommission, die den Mord an Christina aufklären soll, vor dem Schulzentrum. „Ich gehe von der Erwartungshaltung aus, daß 100 Prozent erscheinen“, sagt der Polizist, die Arme fest vor der Brust verschränkt. „Und was machen Sie, wenn nur 92 Prozent kommen. Hat die Maßnahme dann überhaupt Sinn?“will eine Journalistin wissen. „Jede polizeiliche Maßnahme ist sinnvoll“, antwortet List. „Und wie wollen Sie die Männer, die nicht kommen, überprüfen? Dazu gibt es doch gar keine rechtliche Grundlage?“hakt ein Journalist nach. „Das sind Fragen des Einzelfalles, die anschließend sorgfältig geprüft werden müssen“, sagt List. „Ist das hier nicht eine Verzweiflungsaktion der Soko?“will ein Journalist wissen. List wird ungehalten. „Das ist eine Frage, die einfach nicht zulässig ist.“„Aber das kostet doch Millionen“, schiebt der Journalist nach. 4,5 Millionen Mark soll die Untersuchung kosten, 250 Mark pro Test. „Wieviele Millionen ist Ihnen ein Menschenleben wert“, gibt List zurück und wendet sich ab. „Was denken Sie, werden Sie tun, wenn...“, versucht eine Journalistin zu formulieren. „Ich denke hier nicht, wir handeln“, sagt List. Die Pressekonferenz ist beendet.
Auf den Stufen der Grundschule in Sedelsberg sitzt eine Gruppe von Mädchen und mustert die Männer, die zum Speicheltest kommen. „Wir wollen wissen wer's war“, sagt die 14jährige Karina. Sie habe Christina „vom Schwimmbad her“gekannt, sagt sie. „Todesstrafe ist das Mindeste für den“, findet Julia (14). „Aber vorher muß man ihn noch stundenlang quälen“, ergänzt Maria (14). „Ich hab' mir noch 90 Pfenning von ihr geliehen, kurz bevor...“Julia schüttelt den Kopf. „Man macht sich ja sonst verdächtigt“, sagt Marco Imholte (18) als er die Stufen zum Test hinaufgeht.
Mehrere Tausend Männer haben sich nach Angaben der Polizei freiwillig zum Speicheltest gemeldet. Genaue Zahlen gibt die Pressestelle nicht bekannt. Der Test sei aber in jedem Fall sinnvoll, heißt es. „Die Bürger sollen sich wieder in die Augen schauen können.“
In der Grundschule in Vrees hängt am schwarzen Brett die Einladung zu einem Elternabend mit einer Psychologin: „Liebe Eltern“, heißt es in dem Schreiben des Elternrates. „Daß Mädchen verschwinden, ist in letzter Zeit öfter vorgekommen. Aber solche Vorfälle nähern sich jetzt immer mehr auch unserer Gemeinde...“
Kerstin Schneider
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