: Vormarsch des Peripheren
In Taormina wurde der Preis „Europa für das Theater“ vergeben – Anlaß zu Betrachtungen des Europäischen in und um uns ■ Von Petra Kohse
Wo in Europa ist Berlin?“ heißt ein Feuilleton von Clemens von Brentano aus den zwanziger Jahren, ein Titel, dessen programmatische Koketterie noch heute gilt. Denn gerade der selbstbezügliche Gleichmut, dessen „Provinzialität“ sich die Berliner ausdauernd vorzuwerfen pflegen, der Mangel an Begeisterung für alles, was von außen kommt, zeigt deutlich, daß Berlin für die Berliner im Zentrum liegt. Tatsächlich ist Berlin in dem Sinne die Mitte Europas, wie Paris die Mitte Europas ist oder London oder Barcelona, und zwar aus dem einzigen Grund, daß jeder sofort zugibt, daß das so ist – außer den Bewohnern selbst, die diese Frage ausführlich diskutiert wissen wollen. Daß dabei stets anderen Metropolen scheinbar der Vorzug gegeben wird, gehört zur Noblesse einer ehemals linken, längst allgemeinen Befähigung zur Selbstkritik, die sich kein Europäer absprechen lassen würde – kulturfeudalistische Etikette.
So wird der Berliner Kultursenator Peter Radunski etwa nicht müde, die Touristenfreundlichkeit seiner Kulturschaffenden zum Gradmesser im europäischen Vergleich zu machen, während Juan de Sagarra, der Theaterkritiker von El Pais aus Barcelona, am Montag in Taormina hervorhob, daß er Berlin gerade deswegen für kulturvoll und metropolitan halte, weil eben nicht alles auf den Tourismus ausgerichtet sei. „Die Berliner sind zunächst einmal sie selbst.“
Taormina? Der Theaterkritiker von El Pais?
Taormina, Sizilien. Am Wochenende wurde in Taormina der Preis „Europa für das Theater“ vergeben. Den Hauptpreis bekam der italienische Regisseur Luca Ronconi, einen Preis für neue theatralische Realität erhielt der Schweizer Christoph Marthaler. Veranstalter dieses in Taormina angesiedelten Preises, der 1986 gegründet und jetzt zum sechsten Mal vergeben wurde, sind die Europäische Union, die Union der europäischen Theater, der internationale Verband der Theaterkritiker und das Institut der Theater des Mittelmeerraumes. Eine internationale Jury aus zwölf Personen (zehn Männer, zwei Frauen) ist für die Auswahl verantwortlich, den Vorsitz führt der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang. Es geht um insgesamt 80.000 Ecu, die den Belobigten zukommen, das sind etwa 160.000 Mark, es geht um sicher mehrere Millionen Mark für Mitwirkende und rund hundert eingeladene Journalisten, um Veranstaltungen und Drumherum, und für Taormina geht es um viel mehr.
Taormina, Sizilien. In einem einzigen verbalen Händeringen hob der Bürgermeister Mario Bolognari bei der Preisverleihung am Sonntag abend vor dem internationalen Publikum hervor, welche immense politische Bedeutung der Preis für Taormina habe. Es sei ein großer Schritt auf dem Weg zur Normalität, für die er mit anderen sizilianischen Bürgermeistern seit Jahren kämpfe, auf dem Weg zu Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Schluß mit den dunklen Zeiten, willkommen Europa, der Ätna raucht nur noch zum Schein!
Entsprechend war keine Folklore im Rahmenprogramm zu sehen gewesen (was sich die Katalanen niemals hätten nehmen lassen), die Straßen waren blitzeblank, Kreditkarten wurden gern genommen, eine vereinzelt bettelnde Ex-Jugoslawin am Straßenrand durfte demonstrieren, daß es anderswo erst wirklich schlimm ist, und nur Kachelbilder in Gipsrahmen an den Wänden und Plastikfrüchte vor einer Abendmahlgesellschaft aus Pappmaché in der S.-Caterina-Kirche zeigten an, daß wir hier südlicher sind, als es der Westen gewohnt ist. Die europäischen Zentren bestätigen sich gegenseitig ihre Authentizität, und die Peripherie muß sich mühen, den Ruch des Authentischen zu verlieren, um aus der Zentralperspektive wahrgenommen zu werden. Was übrigens keine Frage der kulturellen Selbstversicherung, sondern vor allem eine der wirtschaftlichen Überlebenssicherung ist.
Wobei Taormina ein schlechtes und ein gutes Beispiel für das Näherrücken der Ränder ist. Denn während Emanuela Pistone, eine Mitarbeiterin von Taormina Arte, versichert, daß ohne Auto durch Restsizilien reisen zu wollen einer Expedition ins Innere Indiens gleichkäme, wird der malerisch in die Felsen gehauene Ort Taormina von der europäischen, namentlich deutschen Boheme bereits seit über hundert Jahren wahrgenommen und genießt eine entsprechende Infrastruktur.
Allerdings funktioniert die Wahrnehmung nur als verwegen- träumerische Projektion, und weder die 1880 gegründete „Wunderbar“ noch der gegenüberliegende Juwelier „Edelstein“ können heutige Urlauber dazu bringen, die Existenz Taorminas der von, sagen wir, Wuppertal gleichzusetzen. Weswegen ein deutscher Reisebus-Rentner sich nicht scheut, zu dem deutsch verstehenden, aber nicht deutsch sprechenden Kellner eines 4-Sterne-Hotels in Taormina zu sagen: „Dieser Tisch ist erst ocupato, wenn ich hier sitze.“
Wo in Europa also war Taormina am letzten Wochenende? Oder anders gefragt: Welches Europa-Theater fand statt in Taorminas Kongreßpalast, der als Betonscheußlichkeit dem einzigartig erhaltenen griechischen Amphitheater wenige hundert Meter meerwärts nicht im geringsten Konkurrenz zu machen beabsichtigt, was die wahre Höflichkeit des Herzens ist.
Ein sympathisches und durch und durch familiäres Europa wurde gespielt, ein einziges nettes Durcheinander von Vergessenem und Überflüssigem. Christoph Marthaler etwa – support your local artists! –, dessen Arbeit ursprünglich mit einer Performance vorgestellt und dann mit den Dramaturgen Stefanie Carp und Matthias Lilienthal, der Bühnenbildnerin Anna Viebrock und eben ihm selbst diskutiert werden sollte, reiste schließlich alleine mit seiner Assistentin Annette Kuß an. Auch die mitgebrachten Videos waren leider allesamt von miserabler Qualität, aber da ohnehin kein Termin frei gewesen wäre, um eines der Bänder in voller Länge zu zeigen, machte das am Ende auch nichts mehr. Das nicht fachkundige Publikum mußte sich die Arbeit eben imaginieren, und Christoph Marthaler versprach in seiner Dankrede gutgelaunt und mit von der Sonne höchst gerötetem Kopf, im nächsten Jahr eine Inszenierung von sich in Taormina zeigen zu wollen.
Womit eine neue Tradition begründet wäre, denn als einziger großer theatralischer Akt des Festes war auch Robert Wilson, der Träger des letztjährigen Hauptpreises, mit insgesamt sechzig Leuten erneut angereist, um seine BE- Produktion von Brechts „Ozeanflug“ zu zelebrieren. Eine in erster Linie dekorative Arbeit, die weder von den Taormina-Arte-Mitarbeiterinnen noch von stichprobenartig befragten französischen oder spanischen Theaterkritikern geschätzt wurde. Als Bild wurde die Szenerie geschätzt, als Theater jedoch nicht. Das „Danke“-Lied aus Marthalers weitgereister „Murx“- Produktion hingegen summten überraschend viele.
So trieb man in Taormina durch die Tage, ließ sich von Reisegruppen ans Meer schwemmen oder wieder zurück in den Betonpalast, zu einer der zahlreichen Sitzungen, während derer sich Schauspieler, Bühnenbildner und Freunde unter der emphatischen Anleitung von Franco Quadri, Jurymitglied und Kritiker von La Repubblica, an Szenen aus ihrem Leben mit dem Preisträger Luca Ronconi erinnerten. In Ronconis ungehemmter Anwesenheit wurden alle Facetten seines „unsterblichen Genies“ gefeiert – zu einer analytischen Diskussion kam es nicht. Der öffentlichen Probe eines Pirandello-Stoffes für die Expo Lissabon, die Ronconi einmal leitete, und einer Dostojewski-Szene zufolge, war offengestanden auch nichts hinzuzufügen: Einfühlungstheater mit Zittern, Beben und Händescharren. Unauslöschlich prägte sich mir ein Satz des Jurymitglieds Ivan Nagel ein, der über die zeitgleich stattfindende Beratung zum nächstjährigen Preis nur sagte: „Das Spannende bei Jurysitzungen ist, daß am Ende jemand gewählt wird, den eigentlich niemand wollte.“
Ohnehin: die europäische Jury. Auch eine erstaunliche Angelegenheit. Angefangen von Krystina Meissner, der Leiterin des polnischen Stary Teatr, die bei der Preisverleihung auf dem Podium fehlte und sich dafür von ihrem Platz im Publikum erhob und „Huhu“ rief, bis zu Jovan Cirillov vom Belgrader Bitef, der, ebenfalls am Preisabend, seine Kamera einem Profi-Fotografen gab und deswegen, um sich in seinem Erinnerungsbild nachher direkt ins Auge zu gucken, den Kopf genau in dem Moment nach rechts gewendet hielt, als alle anderen neben ihm nach links blickten, von wo einer der Preisträger die Bühne betrat.
„Das ist das europäische Theater, das sind die Leute, die das europäische Theater machen“, versicherte der Dramatiker Moritz Rinke später nicht ganz ohne Rührung. Und Moritz Rinke muß es wissen, denn er war, als Berichterstatter, nicht nur schon letztes Jahr in Taormina dabei, sondern gleich sein erstes Stück, „Der graue Engel“, wurde ins Französische übersetzt, und für nächstes Jahr hat er ein Arbeitsstipendium in Bordeaux. Mich persönlich beruhigt das alles sehr. You can try this at home, Europa kann man auch zu Hause machen, schließlich steckt – frei nach Ivan Nagel über Marthalers Figuren – in jedem von uns einer, der popelt. Was natürlich wieder strikt aus der Zentralperspektive gedacht ist. Denn einem sizilianischen Bauern, der um EG-Geld vorsprechen will und sich im Vorzimmer beim Popeln erwischen läßt, würde ganz bestimmt keiner freundlich auf die Schulter klopfen.
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