piwik no script img

Russische Dichterin wieder auf freiem Fuß

Alina Wituchnowskaja verläßt nach 18 Monaten U-Haft das Gefängnis. Das Urteil wegen Drogenbesitz will sie anfechten  ■ Von Barbara Kerneck

Gestern wurde in Moskau die 24jährige Dichterin Alina Wituchnowskaja aus dem Gefängnis entlassen. Seit dem Spätherbst 1994 bis Ende vergangener Woche hatte sie mit einer größeren Unterbrechung genau anderthalb Jahre in Untersuchungshaft verbracht. Das Gericht des Moskauer Golowinski-Bezirks hatte sie bereits letzten Freitag schuldig gesprochen – nicht wegen Handels mit Drogen, dessen sie ursprünglich angeklagt war, sondern wegen deren Besitz. Die Strafe wurde mit anderthalb Jahren und drei Tagen Haft angesetzt, so daß sie mit der Untersuchungshaft abgegolten war. Die zusätzlichen drei Tage sollten offenbar die Presse um das Vergnügen bringen, eine aus ihrem Eisenkäfig im Gerichtssaal in die Freiheit spazierende Angeklagte zu fotografieren. Die Lyrikerin will das Urteil anfechten.

Wituchnowskaja, schon mit Anfang 20 eine Kultfigur der Moskauer Jugendszene, ist durch ihren Prozeß landesweit populär geworden. In seinem Verlauf übernahm der russische PEN-Club ihre Verteidigung als Gewissensgefangene. Die Lyrikerin bestritt energisch, die von Zeugen genannte Synthetik-Drogen-Dosis im Werte von umgerechnet weniger als 30 Mark verkauft oder besessen zu haben. Dieselben Zeugen gestanden später, ihre Aussagen seien unter Schlägen von Beamten des Geheimdienstes FSB (früher KGB) erzwungen worden. Der FSB, so Wituchnowskaja, habe von ihr durch die Haft Angaben über den Drogenkonsum der Kinder berühmter und einflußreicher Eltern zu erpressen versucht.

Die junge Lyrikerin wollte keine Märtyrerolle spielen und gestaltete ihre Auftritte vor Gericht mit viel schwarzem Humor und schriller Kleidung als konzeptuelle Aktion. Dazu paßten die absurden Formulierungen der Anklageschrift, in der sie „des Handels eines nicht näher festgestellten Narkotikums an einem nicht festgestellten Ort“ bezichtigt wurde.

Auch in der vorläufig letzten Prozeßrunde konnte das wesentlichste Corpus delicti, nämlich das angeblich beschlagnahmte Narkotikum, der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden. Statt dessen präsentierte die Anklage ein leeres Medizinfläschchen, aus dem das „Pulver“ sage und schreibe verdampft sein sollte. Das Prozeßgeschehen der letzten beiden Wochen illustrierte ein weiteres Mal die Einschüchterungs- und Prügeltaktik im Zusammenspiel russischer Haftanstalten mit den Geheimdiensten.

Es begann mit dem über Strecken stark geschwächten Zustand der Dichterin, die an jedem Prozeßtag um vier Uhr früh geweckt wurde und bis zum Ende der Verhandlung, gegen Abend, nichts zu essen bekam. Dann erhielt der FSB-Oberst Woronkow Gelegenheit, seine Mentalität zu demonstrieren. Er hatte seinerzeit die Haussuchung bei den Wituchnowskis inszeniert. Auf die Frage, ob er einen bestimmten Zeugen danach verhört habe, antwortete er: „Dann müßte es ein Protokoll geben. Aber wo es kein Protokoll gibt, da hat es auch kein Verhör gegeben.“ Beim Abgang zischte er Alinas im Korridor wartendem schwerhörigem Vater eine wütende Drohung direkt ins Ohr.

„Der FSB wird dich nicht vergessen!“ hatten Agenten seinerzeit Alexander Kostenko gedroht, der mehrmals zugunsten der Angeklagten ausgesagt hatte. Als damals 17jährigen hatten sie ihn gezwungen, an der Haussuchung als Zeuge teilzunehmen. Seit sein Schicksal an jenem Abend eine so zufällige Wendung nahm, hat er das Gefängnis kaum mehr verlassen. Inzwischen wurde ihm dort das Gehirn aus dem Kopf geprügelt. Mit ihm wurde diesmal der Öffentlichkeit buchstäblich vorgeführt, auf welche Weise sich die Rache der Geheimdienste vollzieht.

Schwankend stand er vor dem Richter, mit einem gebrochenen Arm straff in Handschellen und gehalten von zwei bulligen Milizionären, die sich dabei abwechseln mußten. Glaubhaft wiederholte er, sich an nichts zu erinnern. „Da leben Sie nun mitten unter uns“ – kommentierte ironisch Richter Lutschkin – „und haben schon gar keine Vergangenheit mehr.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen