: Neonazi-Zeugen geraten unter Verdacht
Im Prozeß um den Angriff Göttinger Autonomer auf den Neonazi Polacek will die Verteidigung den Spieß umdrehen: FAPler sollen ihre Aussagen abgesprochen haben. Wundersame Identifizierungen ■ Aus Göttingen Jürgen Voges
Einem Komplott der allesamt aus der Neonazi-Szene stammenden Belastungszeugen sieht sich die Verteidigung im Göttinger Prozeß gegen fünf Autonome auf der Spur. Dem 36jährigen Hauptangeklagten Michael E. wirft der Staatsanwalt vor dem Göttinger Landgericht versuchten Totschlag vor. Er soll 1991 vor dem Haus des damaligen niedersächsischen FAP-Chefs Karl Polacek einen Neonazi durch einen Zwillenschuß lebensbedrohlich verletzt haben. Die weiteren Angeklagten sind der gefährlichen Körperverletzung beschuldigt. Die vier Männer und eine Frau im Alter zwischen 33 und 38 Jahren sollen zudem Landfriedensbruch und versuchte Brandstiftung begangen haben.
Die Verteidigung der Autonomen gab sich trotz der schweren Vorwürfe optimistisch. Der Göttinger Rechtsanwalt Jürgen Ahrens sagte, er rechne mit einem Freispruch für alle Angeklagten. Der hannoversche Anwalt Eckart Klawitter drehte den Spieß gar um: Er gehe einem Komplott der Belastungszeugen aus der Neonazi- Szene nach – sie sollen ihre Aussagen abgesprochen haben.
Die fünf Belastungszeugen waren allesamt Mitglieder oder Anhänger der inzwischen verbotenen neonazistischen FAP. Sie hielten sich im Oktober 1991 anläßlich des Geburtstages ihres Landesvorsitzenden in Polaceks Haus in Mackenrode bei Göttingen auf. Daß es damals zu Auseinandersetzungen zwischen den Neonazis und gut 50 Autonomen kam, ist unstrittig. Die linken Demonstranten vor dem Schulungszentrum waren allerdings mit Skimützen vermummt – dennoch haben die Belastungszeugen sie bei der Polizei identifiziert. Die Verteidigung vermutet, daß dies nur aufgrund von Absprachen möglich war.
Anlaß für die Vermutung gab der Hauptbelastungszeuge bei seiner gestrigen Vernehmung. Der 28jährige Thorsten Heise, bereits seit seinem 14. Lebensjahr in der Neonazi-Szene aktiv und kurzzeitig FAP-Landesvorsitzender, belastete den Hauptangeklagten Michael E. zunächst schwer. Wie bereits vor ihm zwei weitere Zeugen aus der Neonazi-Szene gab Heise an, den 36jährigen als Teilnehmer der Auseinandersetzungen vor dem FAP-Schulungszentrum erkannt zu haben – trotz Vermummung. „Es gibt Gesichter die man ein Leben lang nicht vergißt“, sagte Heise. Er habe gesehen, daß Michael E. mit einer Zwille auf die Veranda des Hauses von Polacek gezielt habe. Kurz darauf sei dort einer seiner FAP-Kameraden, von einer Stahlmutter im Gesicht getroffen, schwer verletzt zusammengebrochen.
Neonazi kann durch Skimützen identifizieren
In Laufe seiner Vernehmung, die den ganzen Verhandlungstag dauerte, verwickelte sich der Neonazi Thorsten Heise allerdings zunehmend in Widersprüche. Laut polizeilichen Vernehmungsprotokollen ist deutlich, daß Heises Aussagen mit zunehmenden Abstand zum Geschehen immer präziser und belastender geworden sind. In seiner ersten polizeilichen Vernehmung hatte der große und stämmige, fast kahlköpfige Neonazi zu Protokoll gegeben: Ein „Kamerad“ habe ihn durch Zuruf darauf aufmerksam gemacht, daß es sich bei dem Zwillenschütze um jenen bekannten Autonomen handele, der bei einem Göttinger Taxiunternehmen beschäftigt sei. Im Verlaufe weiterer Vernehmungen wurde aus diesem keineswegs eindeutigen Hinweis auf Michael E. ein eindeutiges Erkennen des Angeklagten.
Bei der Verlesung der alten Protokolle ergab sich, daß sich der Sehschlitz in der Skimütze des Zwillenschützen von Vernehmung zu Vernehmung immer mehr weitete. Thorsten Heise hatte bei seiner ersten Aussage im Jahre 1991 lediglich eine Brille hinter dem Sehschlitz bemerkt. Am Dienstag wollte er durch den Sehschlitz Oberlippe, Nase, Augen und eine auffallend hohe Stirn erkannt haben. Der Schlitz in der Skimütze sei so groß gewesen, „daß man von einer Vermummung eigentlich nicht mehr sprechen kann“.
Das Göttinger Gericht verzichtete auf die Vereidigung des Zeugen, der selbst bereits achtmal wegen Körperverletzung und anderer Vorwurfe vor Gericht stand. Sollte es der Verteidigung noch gelingen, den Hauptangeklagten Michael E. zu entlasten, droht Heise ein Verfahren wegen Falschaussage. In den Blickpunkt des Interesses könnte dann auch noch einmal jene Sonderkommission des niedersächsischen Landeskriminalamts geraten, die Anfang der 90er Jahre gegen die Göttinger autonome Szene ermittelte. Bei ihr hatte Heise erstmals den heutigen Hauptangeklagten eindeutig identifiziert.
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