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Dreh in Himmelreich

■ Mirjam Kubescha schaffte es, mit ihrem ersten Übungsfilm gleich zum internationalen Filmfestival nach Cannes eingeladen zu werden

Allzu angestrengtes Kunstwollen verhindert oft Kunst. Das gilt auch fürs Leben: Wer etwas erreichen will, darf es nicht erreichen wollen. Der derzeit beste Beweis für diese These lebt in München und heißt Mirjam Kubescha. In einem Dorf bei Dachau mit dem schönen Namen Himmelreich hat die 26jährige im vergangenen Jahr einen Film gedreht. Das nötige Geld pumpte sie sich von ihrer Familie, von „Oma, Opa, der anderen Oma, meiner Tante, Mutter und Schwester – nein, halt, meine Schwester hat mir nichts gegeben.“ In Kürze ist der Film beim internationalen Filmfestival in Cannes zu sehen. Ein unglaublicher Erfolg, wenn man bedenkt, daß „Inside the Boxes“ ihr erster Film ist und daß sie sich nie für Cannes, geschweige denn für irgendein anderes Festival beworben hat. Strenggenommen hat sie nur ihre Hausaufgaben gemacht.

Drehen Sie einen Kurzfilm in Schwarzweiß ohne Dialoge, lautete die Aufgabenstellung für ihre Filmhochschulklasse am Ende des ersten Semesters. Mit der Leistung mußte man es nicht so genau nehmen: Die Fingerübung wurde nicht benotet. Doch Kubescha sah die Zeit gekommen, endlich ihr „Herzblut-Ding“ durchzuziehen, den Film, den sie bereits zwei Jahre vorher geschrieben hatte, der aber mangels Geld, Equipment und Gelegenheit immer nur vor ihrem geistigen Auge ablief. Mit den Aufnahmen fing sie erst an, als alle anderen aus ihrer Klasse schon fertig waren. „Ich wollte den Film bis ins Detail vorbereiten und mir die Schauspieler gründlich aussuchen. Für eine Rolle habe ich mir 50 Leute angeschaut. Ich bin halt doch eine Perfektionistin.“ Nachdem soweit alles im Kasten war, hat sie das Material viermal umgeschnitten. Dann stand plötzlich Heinz Badewitz im Hörsaal. Der urig-skurrile Franke, Herr über ein in der finstersten Provinz beheimatetes Society-Ereignis namens Hofer Filmtage, stattete den Münchnern wieder einen seiner neugierigen Besuche ab. Er war recht angetan und holte „Inside the Boxes“ im Herbst nach Hof.

Daß Badewitz auf die sehr poetische und gleichzeitig fesselnde Geschichte ansprang, hat wohl mit seiner Vorliebe fürs schnickschnacklose Erzählkino zu tun. In Wirklichkeit sei ihr Kurzfilm ein Miniatur-Langfilm, sagt Mirjam Kubescha, ein „komprimiertes Epos“. In einer regennassen Nacht in irgendeinem Kriegsgebiet (die Regisseurin läßt offen, wo, legt aber Bosnien nahe) verliert eine Familie ihr Zuhause: Erst wird der Vater, der eben noch am Küchentisch mit einem Füller Zaubertricks für seine Tochter vorführte, von Milizionären abgeholt. Kurze Zeit später sitzen Kind und Mutter in einem Auto und fahren Richtung Grenze. „Abschied von der Kindheit“ nennt Kubescha das Thema ihres Films – erstaunlich, denn politische Allegorien liegen beim ersten Hingucken eher auf der Hand. Spätestens wenn der Wagen über die Demarkationslinie rollt, wird aber klar, daß das Mädchen außer der staatlichen Grenze noch eine andere überschreitet. Die Frage für sie ist, was kann sie mitnehmen? Soll sie ihren Paß dalassen oder den Zauberfüller? Beides zusammen paßt nicht in die Schachtel im Rucksack. Die Situation ist zu gleichen Anteilen magisch und realistisch. So braucht man nie Angst zu haben, daß im nächsten Moment paradiesische Vorstellungen von Kindheit herbeischwadroniert werden.

Kubescha, die bis zum Abitur im Großraum Gießen lebte, spürte lange Zeit eine Schwellenangst, „zum Film zu gehen, wo ich doch aus einer Kleinstadt komme“. Nach der Schule ging sie erst, der Kunstgeschichte wegen, nach Perugia in Italien, wieder eine Kleinstadt, aber eben Italien. Dann ließ sie sich für fünf Jahre in Paris nieder, „lernte zu leben“ und studierte an der Sorbonne Filmtheorie. Abschlußarbeit über Wim Wenders' „Paris Texas“. Im großen und ganzen hat ihr die Provinz Glück gebracht. Hof krempelte ihr Leben um, und zurück in München, wo sie als einziger Wim- Wenders-Fan in ihrer Klasse nicht immer den leichtesten Stand hat, kam es dann noch besser. Beim internationalen Festival der Filmhochschulen war „Inside the Boxes“ zwar nicht eingeplant, aber ein anderer Film fiel aus. Und so setzte sich Mirjam Kubescha, die an jenem Tag am Info-Tisch des Festivals arbeitete, ins Taxi und nahm ihre Produktion kurzerhand selbst ins Programm. Im Publikum saß zufällig Laurent Jacob, Talentscout und Sohn des Cannes-Festivalchefs Gilles Jacob. In welchem Wettbewerb ihr Film genau läuft und ob es da Goldene Palmen gibt, weiß sie nicht. In zwei Wochen wird man's sehen. Oliver Fuchs

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