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Vollendeter Vollkitsch

■ Zum Abschied überzeugte Herbert Blomstedt mit Mahlers 3. Sinfonie

Das Wetter war so schön am Sonntagmorgen, daß seinen Augen nicht traute, wer gegen 11 Uhr auf dem Johannes-Brahms-Platz wahre Menschentrauben in gemäßigt feierlichen, vom Sommerwind geblähten Gewändern ausmachte. Kurze Zeit später füllten sie die Musikhalle bis fast auf den letzten Platz und waren offenbar trotz des Prachtwetters fest entschlossen, Gustav Mahlers schroffste, kompromißloseste und niederschmetterndste 3. Sinfonie zu hören.

Allein deren erster Satz dauert länger als die längste Haydn-Sinfonie. Während eindreiviertel Stunden und sechs Sätzen keine Pause – was für eine Strapaze, sollte man meinen. Aber nicht mit einem Orchester wie dem des NDR, nicht an einem Tag, an dem es in Hochform ist, nicht mit den Damen des NDR-Chors, dem Knabenchor Hannover und vor allem nicht mit dem scheidenden Chefdirigenten des NDR, Herbert Blomstedt, der Mahlers Antisymphonik so ausnehmend gut darzustellen weiß.

Am Sonntag war alles da. Gustav Mahlers aus allen Nähten platzendes Orchester (die zwei Harfenis-tinnen saßen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand) spielte durchhörbar bis zur letzten Piccoloflöte. Iris Vermillion sang ihr „O Mensch! Gib acht!“-Pathos mit kehlig-deutlicher Stimmer. Wo sonst mehr der erste Satz mit seinem Hornthema und den vielen katastrophengesäumten Volks-, Militär- und k. u. k. Pompmusik-Zitaten und der letzte mit seinen elegisch-schönen Streicherkantilenen beeindrucken, drängte sich am Sonntag auch der dritte Satz ans Herz. Inniger und heidschi-bum-beidschi-seliger hat man das Solo der fernen Bergwelt-Trompete schon lange nicht mehr gehört. Das war eigentlich schon Vollkitsch in höchster Vollendung.

Schade, daß der Mann uns künftig nurmehr als Gast beehren wird. Immerhin, er wird uns beehren. Und sein Nachfolger geht mit Mahler auch nicht übel um.

Stefan Siegert

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