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Gesänge falscher und echter Nonnen

In Deutschland werden zur Zeit fast zwei Dutzend CDs mit Musik von Hildegard von Bingen angeboten. Das ist verblüffend für eine Komponistin, deren musikalisches Werk nur in rudimentären Aufzeichnungen dokumentiert ist. Entsprechend durchwachsen ist die Qualität der Einspielungen.  ■ Von Reinhard Krause

Der „Villarenser Kodex“, auf Geheiß und noch zu Lebzeiten Hildegard von Bingens entstanden, verzeichnet 77 liturgische Gesänge aus ihrer Feder sowie das geistliche Singspiel „Ordo virtutum“. Zu diesen Werken sind zwar Noten überliefert, jedoch keine Angaben zu Instrumentierung, Tonhöhe oder Rhythmisierung. Häufig ist nicht einmal die Einbindung in die Liturgie zu erkennen. Wie läßt sich mit diesem Material die Forderung nach Werktreue umsetzen? Durch das Bemühen um eine „authentische“ Klangwirkung, durch Einsatz alter Instrumente? Der Hildegard-Markt ist diesbezüglich gespalten. Neben honorigen Annäherungen gibt es auch Skurriles.

Zur Gruppe der bekennenden Eklektiker gehört Vladimir Ivanoff. Vor wenigen Wochen etwa überraschte er bei einer Berliner Konzertreihe zum Hildegard-Jubiläum mit einem Mischmasch aus Hildegard-Gesängen und Gesangstechniken des Orients. In der Vergangenheit wurden Ivanoffs Hildegard-Adaptionen mit dem Ensemble „Vox“ unerschrocken als „Elektronische Musik des Mittelalters in authentischer Aufführung“ vermarktet.

Der Einsatz von Fairlightsynthesizern, Halleffekten und Rückwärtsschlaufen, so Ivanoff 1990 im Begleitheft zu „Diadema“, ermögliche „einen intensiveren Zugang zur Musik des Mittelalters“. Dieser Zuwachs an Kraft war freilich mit einem kräftigen Schuß Tingeltangel erkauft. „O Euchari“ etwa klingt in der „Vox“-Interpretation wie eine Mischung aus Soeur Sourire und Velvet Underground und Nico. Da pfeift und klappert ein trauriges Harmonium, da streicht eine düstere Fiedel, und der Chor der falschen Nonnen singt ein sehnsuchtsvoll erhabenes Lied: die Wiedergeburt religiöser Mystik aus dem Geist der Romantik. Vollends prekär geriet „O successores fortissimi leonis“, das durch den Einsatz einer flotten Percussiongruppe zu überzeugen versucht: Tambourin-Nonnen kasteien sich beim Tanz um den Marterpfahl.

Das Gros der Hildegard-Einspielungen freilich ist von geradezu musikwissenschaftlicher Ernsthaftigkeit geprägt – allen voran die CDs des 1978 gegründeten „Sequentia“-Ensembles. Mit einer Neuaufnahme des Singspiels „Ordo virtutum“ hat die Gruppe gerade ihr Projekt einer Gesamteinspielung Hildegardscher Kompositionen abgeschlossen. Das Stück über den stetigen Kampf des Guten gegen das Böse sprengt den Rahmen der für den liturgischen Gebrauch bestimmten Werke Hildegards. Durch die klare Gegenüberstellung von Chorgesang und Einzelstimmen klingt „Ordo virtutum“ abwechslungsreicher als die durchgängig einstimmigen Chorwerke Hildegards.

Ernsthafte Konkurrenz bekam „Sequentia“ jüngst durch das US-Vokalensemble „Anonymous 4“. In ihrer Heimat haben die vier Sängerinnen aus Manhattan längst den Status der Anonymität hinter sich gelassen: Ihre ersten sechs CDs mit Vokalmusik des Mittelalters haben eine Gesamtauflage von gut einer halben Million. Das Erfolgsrezept der 1986 gegründeten Gruppe basiert auf dem perfekten Gleichklang ihrer Stimmen, der sie für die Einstimmigkeit mittelalterlicher Vokalwerke geradezu prädestiniert. Scherzhaft stellen sich die Frauen in den Medien schon einmal vor als „Die mit der tiefen Stimme“, „Die andere mit der tiefen Stimme“, „Die mit der sanften Stimme“ und „Die mit der Mickymaus-Stimme“.

Bei ihrem Hildegard-Projekt haben „Anonymous 4“ wie stets auf jegliche Instrumentalbegleitung verzichtet – auch wenn die heilige Klosterdame diese ausdrücklich als Teil des Gotteslobs gefordert hatte. Ganz ohne Zimbeln und Fiedeln dargeboten, klingt Hildegards Werk zum Fest der Heiligen Ursula und der ihr nachfolgenden 11.000 Jungfrauen vollkommen unaffektiert und frisch.

Im Streit um die eine „richtige“ Aufführungspraxis bleibt allerdings selbst solche Virtuosität nicht ohne Widerspruch. Das auf Gottesdienst und Liturgie ausgerichtete benediktinische Klosterleben, so der Leiter der Schola der Benediktinerinnen- Abtei St. Hildegard, Johannes Berchmans Göschl, habe zwar eine „überdurchschnittliche Gesangskultur“ in der Abtei der Heiligen Hildegard bewirkt, gestattete „mit Sicherheit aber nicht das sängerische Niveau eines professionellen Ensembles“. Mehr noch: „Echte Mystik und Virtuosentum sind einander zutiefst fremd, schließen sich gegenseitig aus.“

Wer also gar nichts falsch machen mag bei der Suche nach authentischer Mystik ohne New-Age-Gewabere und ohne Konzerthausschliff, dafür aber mit wirklichen und echten Nonnen, für den gibt es inzwischen auch drei CD-Einspielungen der echten Nachfahrinnen Hildegards aus dem Kloster in Eibingen. Das Album „O vis aeternitatis“ etwa bietet den liturgischen Rahmen einer Vesper, wie sie am Ort des Wirkens der Klostergründerin tatsächlich zelebriert werden könnte. Nicht mit ätherischen Engelszungen dargeboten, sondern mit sehr irdischen Stimmen aus dem Kloster. So manchem neuen Freund religiöser Gestimmtheit ohne kirchliche Regel wird dieses Programm allerdings wieder zu episkopal sein.

Vox – Diadema, Erdenklang/in Akustik; Sequentia – Ordo virtutum, Deutsche Harmonia Mundi/BMG; Anonymous 4 – 11.000 Virgins. Chants for the Feast of St. Ursula, Helikon Harmonia Mundi; Schola der Abtei St. Hildegard – O vis aeternitatis, Ars Musici.

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