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Atomexplosion verschwiegen

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen hessische Fabrik: Rund 300 Arbeiter wurden 1987 verseucht. Doppelte Buchführung bei Strahlungskartei  ■ Aus Frankfurt/Main Klaus-Peter Klingelschmitt

Am 20. Januar 1987 kam es bei der Atomfirma Nukem in Hanau zu einer Explosion. Dabei wurde auch Radioaktivität frei, wie aus einem der taz vorliegenden Bericht von vier Sachverständigen an die Staatsanwaltschaft Hanau hervorgeht. Bei diesem Plutoniumunfall, der den Aufsichtsbehörden von Nukem verschwiegen wurde, seien bei rund dreihundert Mitarbeitern „spontane Dosimeterkontaminationen“ aufgetreten, heißt es in dem Bericht der Gutachtergruppe Pitt, Schalch, Gabriel und Scharmann – das heißt, sie wurden meßbar verstrahlt. Die Experten stellen heute fest, daß der Unfall „in keinem bekanntgewordenen Bericht von Nukem, Betriebsarzt, Aufsicht oder Gutachter“ behandelt wurde.

Der taz liegen Hinweise vor, daß von den dreihundert betroffenen Arbeitern inzwischen mehrere an Krebs gestorben sind. Doch ist es den Gutachtern nicht gelungen, alle betroffenen Personen aufzufinden, weil die Nukem anscheinend nicht einmal die Namen vollständig angeben kann.

Der Bericht der Gutachter datiert vom März 1998 und ging am 6. April 1998 bei der Staatsanwaltschaft in Hanau ein. Offenbar mit einer doppelten Buchführung über Strahlenexpositionen täuschte Nukem die Aufsichtsbehörden: „Ab Januar 1987 besteht keine geordnete Dokumentation der Expositionsdaten für die Nukem-Beschäftigten, um die Anforderungen der Strahlenschutzverordnung zu erfüllen. Es ist eine unter Verschluß stehende und eine davon separierte offizielle Dokumentationsebene erkennbar“, so heißt es im Resümee. „Die offiziellen Dokumente verschweigen den tatsächlichen Expositionszeitpunkt 20. Januar 1987 und legten einen solchen unbestimmt auf Mitte Februar 1987.“

Die Staatsanwaltschaft ermittelt schon länger von Amts wegen gegen Nukem wegen des Verdachts auf illegalen Umgang mit Kernbrennstoffen. Und sie ermittelt aktuell aufgrund einer Strafanzeige des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) von Ende 1997 gegen Verantwortliche der Nukem.

Vor einem halben Jahr war der Fall des 1991 an Krebs verstorbenen ehemaligen Atomwerkers Franz Ferstl bekanntgeworden. Erstmals nämlich hatte die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie die tödliche Krebserkrankung eines Atomwerkers posthum als Berufskrankheit anerkannt. Im Auftrag der Berufsgenossenschaft hatten Gutachter Gewebeproben des Verstorbenen untersucht und waren zu dem Schluß gekommen, daß die Krebserkrankung bei Ferstl „mit großer Wahrscheinlichkeit“ auf eine extrem hohe Strahlenbelastung in den Jahren 1975 bis 1979 zurückzuführen sei. Nukem – heute zu 100 Prozent im Besitz von RWE – mußte danach zugeben, daß Ferstl von 1976 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Werk Ende der achtziger Jahre mit dem 28fachen der zulässigen Lebensdosis an Radioaktivität verstrahlt worden sei.

Nur weil die Gutachter der Staatsanwaltschaft auftragsgemäß den Zeitraum der Ermittlungen ausdehnten bis zum Ende der alten Nukem nach dem Skandal um die Atomtransportfirma Transnuklear (TN), an der Nukem beteiligt war, stießen sie auf den geheimgehaltenen Explosionsunfall vom Januar 1987. Der sei in keinem bekanntgewordenen Bericht der Nukem behandelt worden, so daß sich weder der Betriebsarzt noch Aufsichtsbehörden oder Gutachter damit hätten beschäftigen können. Betriebsinterne Dokumente belegten allerdings den Unfall. Und Gebäudeschäden seien auf Fotos zu erkennen.

Um den Unfall zu vertuschen, seien für Januar und Februar 1987 die Emissionsmessungen nicht in die Jahres-Strahlenschutzberichte eingetragen worden, berichten die Gutachter der Staatsanwaltschaft. Es fehle zudem eine unfallspezifische Auswertung der Personal- und Umgebungsbelastung. Den Bundesbehörden gemeldet habe Nukem lediglich unbedenkliche „Personendosen“ infolge einer Kontamination mit SNEAK-Plutonium im Februar 1987. Ein Gutachten des Bundesgesundheitsamtes, das danach angefertigt wurde, gehe deshalb sowohl hinsichtlich des Inkorporationszeitpunktes als auch der Unfallart von falschen Voraussetzungen aus.

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