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Leben im Klima ständiger Alpträume

Weil die islamische Welt den Anschluß an die Moderne verpaßt hat, verharrt sie gekränkt in einer narzißtischen Verteidigungshaltung. Vom Ideal der Demokratie sind die Staaten entfernter denn je, lautet das Fazit einer Anthologie islamischer Intellektueller  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Der Westen glaubt zu wissen: Die arabisch-islamische Welt, das ist eine Ansammlung rückständiger, intoleranter und totalitärer Systeme. Auch arabische Autoren sind nicht weit von dieser Sichtweise entfernt. „Im modernen Orient herrscht ein Klima ständiger Alpträume“, lautet die Bestandsaufnahme der in Paris lebenden tunesischen Historikerin Hélé Béji. Béji ist eine von einem Dutzend arabischen Denkerinnen und Denkern, deren lesenswerte Ansichten zum Spannungsfeld Islam und Moderne in einem Band zusammengefaßt sind.

Der Westen, das bedeutet einen großen Vorsprung im Bereich der Wissenschaft, der Technik und der politisch-gesellschaftlichen Kultur, dem die arabische Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts schockartig begegnete, den sie seitdem aufzuholen versucht. Solange die arabischen Machthaber nur die materiellen Aspekte der Modernität wahrnehmen, nicht aber deren Grundlagen wie individuelle Freiheitsrechte, Selbstkritik, Rationalität und die Trennung von Religion und Gesellschaft, wird sich daran wenig ändern.

Für Béji deutet aktuell wenig auf eine Reformfähigkeit der arabisch-islamischen Welt hin. Für sie haben die arabischen Machthaber die Verheißungen der Unabhängigkeitsbewegungen und nationalen Befreiung zu einer perversen Karikatur entstellt: „Die Identität trat an die Stelle der Freiheit, die Partei an die Stelle der bürgerlichen Souveränität, die Miliz an die Stelle des Gewissens, der Militarismus an die Stelle des Staatsbürgergeistes, der Staat an die Stelle des Rechtes, die Diktatur an die Stelle der Republik.“ Die Existenz des arabischen Bürgers als Citoyen, so Béji, sei auf ihren bescheidensten Ausdruck reduziert, auf die Fähigkeit zur biologischen Reproduktion und die armselige Freiheit, eine Familie zu gründen.

Das alles klingt recht gemein, ist aber das zentrale Thema der Autoren der Anthologie. Woraus speist sich der Widerstand der arabisch- islamischen Welt gegenüber der Moderne? Wie gestaltet sich das Verhältnis der arabisch-islamischen Welt zum Westen, zwischen Islam und Politik und zur Frauenfrage?

In den letzten hundert Jahren, darauf weisen gleich mehrere Autoren hin, waren die arabischen Gesellschaften weit davon entfernt, wirklich modernisiert zu werden. Die alten patriarchalischen Strukturen wurden mit Hilfe der europäischen Kolonisatoren lediglich in „modernisierte“ Formen umgestaltet und damit in der Form des Neo-Patriarchats erhalten. Es ist eine Stärke des von Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi herausgegebenen Buches, den europäischen Anteil an der Rückständigkeit der arabisch-islamischen Welt zwar kritisch zu würdigen, dabei aber nicht in einer eurozentristischen Sichtweise zu verharren.

Islam, Demokratie und Moderne – in der arabisch-islamischen Welt geht das zur Zeit offenbar nicht zusammen. Kein Land, das auch nur annähernd ein demokratisches System aufzuweisen hätte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bemühten sich, unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung, politisch-religiöse Reformer um eine Rationalisierung des Islam. Das führte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erfrischenden Impulsen im Geistesleben, in Kunst und Literatur. Das ist Geschichte. Nach 1967, nach der militärischen Niederlage gegen Israel, ist diese islamische Moderne endgültig untergegangen in der Woge des neuerwachten Fundamentalismus. „Dieses traumatische Erlebnis zerstörte nicht nur das Vertrauen der Menschen in ihre Regierungen, sondern schürte gleichzeitig den Haß gegen den Westen, der auf seiten des israelischen Aggressors stand“, so die Einschätzung der Herausgeber.

Kritische Intellektuelle wurden von den Islamisten in den Folgejahren für alles Übel verantwortlich gemacht, das der islamischen Welt in diesem Jahrhundert widerfahren ist. Die Arbeitsbedingungen für arabische Intellektuelle sind deshalb heute alles andere als günstig. Nicht wenige, wie der mit einer scharfen antiislamistischen Polemik in der Anthologie vertretene ägyptische Publizist Farag Foda, wurden ermordet. Andere mußten vorübergehend oder auf Dauer ins Exil oder sich, wollten sie in ihren Heimatländern bleiben, in ihrer Kritik, vor allem gegenüber dem Religiösen, spürbar zurücknehmen.

In einem erhellenden Beitrag analysiert der in Palästina geborene und heute in den USA lebende Philosoph Hischam Scharabi die unmöglich zu bewältigende Aufgabe der über den ganzen Globus verstreut lebenden säkularen arabischen Intellektuellen. Sie müssen „den schmalen Grat beschreiten zwischen der Opposition gegen den westlichen Neo-Imperialismus und der Unterstützung des Widerstandes der islamischen Fundamentalisten gegen den Westen“.

In dem Essay „Die anthropologische Wunde in unserer Beziehung zum Westen“ führt der in Paris lebende syrische Schriftsteller George Tarabischi aus, wie der zivilisatorische Vorsprung des Westens von den Arabern als eine Kränkung des Selbstwertgefühls empfunden wird. Diese Kränkung führt zu einer narzißtischen Verteidigungshaltung. Man hebt den eigenen Beitrag zum Fortschritt des anderen hervor. So unterstreicht die islamistische Geschichtsphilosophie hartnäckig, daß Europa nur aufgrund des Wissenstransfers aus dem „goldenen Zeitalter“ des Islam (8. bis 10. Jahrhundert) zu dem werden konnte, was es heute ist. Tarabischi räumt mit dieser verkürzten Sichtweise auf: Die Moderne wurde vom Europa des 17. Jahrhunderts und der Renaissance eingeleitet, von jenem Europa also, das sich gerade von der Epoche des „goldenen Zeitalters“ abkehrte. Nähme man dies zur Kenntnis, dann, so Tarabischi weiter, müßte man das Kapitel der „Schuldigkeit“ gegenüber der arabisch-islamischen Kultur abschließen. Damit tut sich die arabisch- islamische Welt allerdings schwer. Denn sie müßte dann einen selbstkritischen Standpunkt einnehmen, sich selbst hinterfragen, beides Voraussetzungen eines zivilisatorischen Aufbruchs.

Nicht alle Beiträge der Anthologie sind in gleichem Maße erfrischend und politisch brisant. Der eine oder andere quält sich bemüht über die Seiten. Dies schmälert allerdings wenig das Verdienst der Herausgeber, dem deutschsprachigen Leser die bedeutendsten arabischen Denker nähergebracht zu haben.

Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi (Hrsg.): „Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker“. C.H. Beck, München 1998, 267 Seiten, 38 DM

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