■ Schmalspur-Anarchisten attackieren Feiertagsordnung: An der deutschen Datumsgrenze
Ein sonniger Morgen in Lienen an der nordöstlichen Grenze Nordrhein-Westfalens. Mit nach hinten gekämmten, noch nassen Haaren steht Kevin im kühlen Ostwind vor der Bäckerei. „Siehste, ist natürlich geschlossen!“ sagt er und deutet hinter sich – heute gibt es keine frischen Brötchen. Nebenan will Kevin wenigstens noch den obligatorischen vorfrühstücklichen Zeitungskauf tätigen. Vor ihm eine Stammkundin, die den Kioskverkäufer fragt: „Hast du Für Sie da?“ Er hat. Dann tritt Kevin an den Tresen, und obwohl er nur eine Tageszeitung kaufen will, läßt er sich den ersten Morgenkalauer nicht nehmen: „Haben Sie Du da?“ Hat der Provinzkiosk nicht, und weder eine überregionale Tageszeitung aus München noch aus Frankfurt ist heute erschienen. „Och, noch nicht mal das Lokalblättchen“, lamentiert Kevin und macht sich mit einer Packung Plastiktoast mit Konservierungsstoffen auf den Heimweg.
Kevin muß mitten in der Woche, an einem Feiertagsdonnerstag, ohne Morgenlektüre frühstücken. Ohne die eine Seite à la „Aus aller Welt“ oder „Vermischtes“, wo jeder der sensationellen Artikel genau eine Brötchenhälfte lang ist. Und dann wieder eine schmieren, wenn im Radio moderiert wird, und bei den ersten Popmusik-Akkorden zum nächsten Artikel übergehen. Doch trotz des mißratenen Brunches fällt den Profi an der Frühstücksfront keine „Tristesse des Toastens“ (Kevin) an, denn heute ist ein besonderer Feiertag. Mit jeder Tasse Kaffee freut Kevin sich mehr auf ein jährliches Ritual.
Grandioseres als Äquatortaufen und Interkontinentalflüge in entlegene Zeitzonen ist heute möglich: Fronleichnam wird zwar in NRW als Feiertag zelebriert, nicht jedoch im angrenzenden Niedersachsen! Also steht Bundesland-Hopping auf dem Programm. Kevin hat ein bestimmtes Fluchtfahrzeug in den Osten im Sinn und greift zum Telefon.
Wenig später steht er auf den Gleisen der Museumsbahn, die von Lienen ins niedersächsisch- freiheitsverheißende Bad Laer führen. Hinter einer Schienenkurve naht metallisches Kreischen und wird dann immer lauter. Polly und Frank kommen auf einer Draisine angefahren, legen den Bremshebel um und bleiben mit atemberaubendem Quietschen stehen. Kevin springt zu seinen beiden Freunden auf die Selfmade-Konstruktion aus Fahrradteilen und einem ausgemusterten Güterwaggon. Er nimmt in der Mitte Platz. „Das ist wie Tretbootfahren, nur wesentlich lauter“, schreit Polly gegen den Fahrlärm an. Bald passieren sie einen verwitterten Grenzstein und haben NRW hinter sich gelassen: Die Feiertags-Zombies dringen ins Reich der Werktätigen vor. Backbord liegt „In den langen Ellern“, und steuerbord erblickt man die prachtvollen Baumbestände von Herringhaus. In Bad Laer am Fuße des Kleinen Berges (208 m) angekommen, heben die drei Lethargie-Exilanten ihr Zeitsprung-Mobil von den Gleisen, „falls doch mal ein Zug kommt“, wie Frank meint. Sie haben es eilig, in die City zu kommen. „Hier liegt sie vor uns: die Fußgängerzone des vorigen Tages!“ paraphrasiert Kevin den Titel seines Lieblingsromans von Umberto Eco. „Klar“, sagt Polly, „jetzt gehen wir shoppen, um mit dem Kaufkraft-Export gegen die Feiertags-Langeweile zu protestieren!“ Frank gibt die Espresso-Parole aus: „Zuerst mal Koffein!“ Dann mischen sie sich unter andere Feiertags-Flüchtlinge und Einheimische, die heute nichts von der Melancholie des Stillstandes verspürten. „Bad Laer ist das Ellis Island des quasi feiertagsfreien Lower Saxonian Way of Life“, erklärt Polly und geht mit Kevin und Frank Platten kaufen. Auch musikalisch fällt die Ménage à trois aus der Zeit: Kevin kauft den Soundtrack von „Zurück in die Zukunft“, Frank aus zweiter Hand die Maxi-Single „Fight for your right“ von den Beastie Boys, und Polly entdeckt „Stand by me“ auf einer 4,95-Ramsch-CD.
Nach einem gelungenen Fußgängerzonenflaniernachmittag schlendern sie in der Dämmerung über die Schienen zu ihrem Raumkrümmungs-Vehikel zurück. Den Jede-Zweite-Schwelle-Takt schafft man nur laufenderweise, was eindeutig zu anstrengend ist. „Keine Eile. Wir haben einen Tag Vorsprung“, doziert Kevin, „genau wie Phileas Fogg nach dem Überqueren der Datumsgrenze in Jules Vernes ,In 80 Tagen um die Welt‘!“ Bald hören und sehen die Feldhasen und Rehkitze In den langen Ellern ein seltsames Schienenfahrzeug vorbeisausen.
Auf der Draisine sind strategische Planungen im Gange, den kommenden Sonntag betreffend. Christian Kortmann
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