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Akustische Essays zu Bachs Cellosuiten

■ „Die letzte Passage“: Vierte kollektive akustische Bachexegese im Lichthaus

Längst wurde die Idee vom vollständigen, runden, kompakten Werk mit ordentlichem Anfang und ebensolchem Ende auch in der Musik zerbröselt. Zum einen durch diverse works in progress (zum Beispiel Pierre Boulezs Répons), zum anderen durch Werkzyklen, die sich über ganze Jahrzehnte hinwegranken (zum Beispiel Stockhausens siebenteiliges religiöses Opernprojekt „Licht“). Unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit – undercover – hat sich auch in Bremen ein Künstlerquartett auf eine ästhetische Reise ins Blaue und Ungeahnte begeben. Unter dem philosophisch aufgeladenen Arbeitsmotto „Passagen“ machten sich die Installationskünstlerin Ute Safrin, der Klarinettist Ulrich Mückenberger und die Komponisten Georg Sichma und Erwin Koch-Raphael daran, Gottvater Bach zu umkreisen. Über einen Zeitraum von vielen Monaten hinweg, unterbrochen durch die Schnörksel der Biographien der vier Beteiligten aber auch durch Äußerlichkeiten, etwa der Verfügbarkeit des Aufführungsortes, ging es darum, die Gesetze des Bachschen Melodienverlaufs zu untersuchen, befolgen, brechen. Erich Koch-Raphael bewahrt und verfremdet in seiner Composition No. 52 für Klarinette Solo all die Gestaltungsmittel, die in Bachs Cellosuiten auftauchen: Pendelfiguren, Kreisfiguren, versteckte Zweistimmigkeit, den Wechsel von kurzen und weitschweifigen Motiven, von fließenden und synkopisch-bockspringenden Rhythmen. Safrin und Sichma umgarnen diese Klarinette, die Stimme des Individuums, mit sozialen (Kinderstimmen), technoiden und naturhaften Klängen von Tonband und Samplemaschine.

Im Lichthaus wurde jetzt die vierte Etappe auf der Reise zu Bach – forward to the past oder back to the future – bezwungen. Vielleicht ist es auch die Letzte. Denn das Lichthaus wird jetzt erstmal mit EU-Geldern von einem charismatischen Ort prachtvollen Verfalls in ein Nobeletablissement für wer weiß was verwandelt. Wahrscheinlich wird hier in bälde Mercedes seine diversen, neuen A-Z-Klassen vorstellen, spöttelt Lichthausvereinsmann Beier.

„Essay“ hieß mal ein Stück von Elektronikguru Gottfried Michael Koenig. Und essayistisch sprunghaft ist auch die Beweisführung des Abends im Lichthaus. Das Ergebnis aber ist klar. Und versöhnlich. Sogenannte Mikroimprovisationen belegen am Ende die Diskursfähigkeit von Einzelstimme und Umweltrauschen, Struktur und organisiertem Chaos, Alt und Neu. Längst ist da die Sonne über Bremens rostromantischem Hafenareal gesunken. Sie zeichnet nicht mehr helles Flickwerk auf den Zementboden des Lichthauses, sondern feuert leuchtende orangefarbene Rechtecke an die Wand.

Am Anfang des Abends aber steht der Antagonismus: „Präludium: Bach versus Band“. Mückenberger, Jura-Prof in Hamburg und trotzdem genialer Klarinettist, zieht kontemplativ seine melodischen Bahnen. Unerschütterlich wie ein Säulenheiliger läßt er sich nicht irritieren vom unberechenbaren, wechselhaften Toben vom Tonband um ihn herum. Selbst dann nicht, wenn die Klänge vom Band dezente Annäherungsversuche unternehmen: Tonleitergedudel einer Flöte, orchestrales Gewusel aus einem imaginären Orchestergraben.

In einer „Klanginstallation“ verdichtet und verschmilzt Ute Safrin dieselben, kunterbunten Geräusche – Operngesang, Rauschen, Britzeln, Metallig-Halliges, das Gefängnisassoziationen erzeugt – zu einem leisen, filigranen Rauschen. Was erst aus zwei großen Lautsprechern tönte, wispert und raschelt nun aus 45 kleinen. Bach kann nicht meditativer sein.

Aber auch die Klarinette lernt dazu. Koch-Raphael füllt die Bachschen „Proportionen“ mit neuen Inhalten, bis aus der Quicklebendigkeit einer Bachsuite ein exzessiver Taumel wird. Unberechenbar wie ein Gummiball springt die Klarinette von hysterischen Höhen in dunkle Tiefen. Von den klaren Abmessungen des Barocks ist nicht mehr viel zu hören. Da sind sie aber immer noch, behauptet Koch-Raphael.

Mit einem Ausgangsmaterial von fünf verschiedenen Klangfarben untersucht Georg Sichma u.a. solche Transformationsprozesse von der Ordnung zum Chaos. Rhythmus löst sich durch Überlagerung in wildes Prasseln auf, Ton in Geräusch. Wird ein Klavierstück von Chopin auf mehreren Tonhöhen leicht verschoben zueinander abgespult, entsteht ein amorphes Rauschen. Nur noch vage sind die Erinnerungen an ein „zivilisiertes“ Musikinstrument. Andererseits dreht, wendet, zerlegt und tranponiert Sichma ein Fernsehrauschen so liebevoll wie Bach ein Fugenthema. Ein ewiges Voneinander-Lernen. bk

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