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Skelette für den Westen

James Hamilton-Patersons „Die Geister von Manila“ läßt Europäer in einer Metropole der „Dritten Welt“ landen  ■ Von Mark Terkessidis

Wenn wir als Passagiere eines Flugzeugs beim Landeanflug auf eine „tropische Metropole“ den Blick schweifen lassen, so sehen wir oft im gescheckten Muster der Stadt nur jene Zitadellen des Wohlstands, die nach westlichen Vorbildern errichtet sind. Nach der Landung dann werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Taxi besteigen, das uns durch die kulissenhaft wirkende Hektik des Stadtlebens sogleich in eines dieser sicheren Zentren bringt. „Zwischen“ den Zitadellen und „hinter“ der Kulisse jedoch können, wie James Hamilton-Paterson schreibt, „am hellichten Tag ganze Terrains aus dem Blickfeld verschwinden“.

Der erste deutsch übersetzte Roman des britischen Journalisten, Geographen und Romanciers beginnt mit dem Anflug auf Manila, aber er führt uns aus dem Flugzeug ohne Vermittlung sofort an einen der Orte, die sonst für uns unsichtbar bleiben. Plötzlich finden wir uns an der Seite einiger Chinesen wieder, die in einem einfachen Betonbau auf einem Stück Brachland routiniert ihren Tätigkeiten nachgehen. Sie verwandeln von der Polizei illegal angelieferte Leichen in haltbare Skelette, die als anatomische Schaustücke in den Westen geliefert werden.

Der schockierende Übergang stößt den Leser schon während der ersten Seiten drastisch auf jene Grundspannung, die der Roman später ausführlich entfaltet: Was passiert, wenn die Passagiere des Flugzeugs mit den Geschehnissen konfrontiert werden, die in den verborgenen „Zwischenräumen“ von Metropolen der „Dritten Welt“ stattfinden? Auf eine seltsame Weise ist daher ein solcher „Zwischenraum“ auch das eigentliche Subjekt des Romans. Eingequetscht liegt die Squattersiedlung San Clemente zwischen einem chinesischen Friedhof und einer weißen Mauer, die von Imelda Marcos errichtet wurde, um das Elend vor den Augen des 1981 angereisten Papstes abzuschirmen. Hier lebt Nanang Pipa, die eine Nähkooperative leitet und die trotz der widrigen Umstände versucht, ein einigermaßen ordentliches Leben zu führen. Irgendwann kann sie ihren Mann dazu bewegen, endlich eine Grube für die Toilette auszuheben. Allerdings löst diese konkrete Verbesserungsmaßnahme eine Kette unvorhergesehener Ereignisse aus. Eine erfundene Vampirgeschichte, ein archäologischer Fund auf dem Grunde der Sickergrube und die Machenschaften des chinesischen Tan-Clans münden schließlich in die vollständige Zerstörung von Pipas Leben und ganz San Clementes.

Wie durch Zufall werden zwei Briten in den Gang der Ereignisse verwickelt, die beide in Manila wissenschaftliche Forschung betreiben. John Prideaux arbeitet an einer Dissertation über die kulturellen Grundlagen des Amoklaufes und stößt dabei auf die Ereignisse in San Clemente. Ysabella Bastiaan arbeitet für das Philippine Heritage Museum und beteiligt sich voller Enthusiasmus an den Ausgrabungen in Pipas Toilettenkuhle. Unausweichlich befinden sich die beiden Briten, die eine Art Auszeit in der Fremde nehmen, auf der Suche nach der Geschichte im westlichen Sinne. Daher versteht Prideaux nicht, warum in dem von Filz und Chaos zerfressenen Land niemand aus dem Fatalismus ausbricht und sein Geschick in die eigene Hand nimmt – wenn auch nur in einem Amoklauf –, und Bastiaan kann nicht begreifen, warum die Philippiner das nationale Erbe so schamlos verschleudern – schließlich besitzt jeder korrupte Politiker wertvollere archäologische Schätze als das Museum.

Während die Europäer nach der linearen Geschichte forschen, stecken sie bereits inmitten jener anderen Geschichte in den „Zwischenräumen“, die nur aus einer instabilen Abfolge von Episoden besteht. Indem Bastiaan nach den historischen Ursprüngen buddelt und die Größe des archäologischen Fundes bestaunt, verurteilt sie in der Gegenwart Nanang Pipa zur Heimatlosigkeit. Denn selbstverständlich gehört der Boden, auf dem das Haus steht, nicht ihr, und so bedeutet der Fund ihre Vertreibung. Prideaux, der als ehemals engagierter Filmemacher immer noch darunter leidet, zu spät in Vietnam gewesen zu sein, erweist sich erneut als unfähig, tatsächlich an der Geschichte teilzunehmen. Um ihn herum fällt eine Welt in Scherben, aber wieder hat er nur das Gefühl, alles verpaßt zu haben.

„Die Geister von Manila“ ist ein verschlungener, aber grandios komponierter Roman. Hamilton- Paterson unternimmt darin den komplizierten Versuch, die Verhältnisse in einer Demokratie der „Dritten Welt“ gemäß ihrer eigenen Logik zu verstehen, indem er sie dem Unverständnis, der Distanz, aber auch der permanenten unabsichtlichen Verwicklung der westlichen Besucher gegenüberstellt. Am Ende des Romans heben wir mit Prideaux wieder vom Flughafen Manila ab. Weil er immer die Möglichkeit hatte, zu den Sicherheiten des Westens zurückzukehren, ist er ohnehin nur im Transit geblieben.

In einer ganz anderen Art Transit stecken die Bewohner von „Zwischenräumen“ wie San Clemente – sie haben überhaupt keine Sicherheit. Pipas Eingriff, der Ordnung in den Alltag bringen sollte, führte in die Katastrophe. In Orten wie San Clemente gilt keine Kausalität, und daher wird der Fatalismus zum Ausdruck des gesunden Menschenverstandes. Während Menschen wie Prideaux darunter leiden, nichts zu erleben, erleben die Pipas dieser Welt ständig weit mehr, als sie ertragen können. Am Ende sehen wir mit Prideaux die Stadt wieder aus der Perspektive des Beobachters. Unbeteiligt blicken wir aus dem Himmel, der für die meisten Bewohner von Manila eine terra incognita bleibt, auf die tausendfach gebrochenen Leben der Stadt hinab.

James Hamilton-Paterson: „Die Geister von Manila“. Roman. Aus dem Englischen von Esther und Udo Breger. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1998, 432 Seiten, 44DM

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