: Globalisierung bedroht rot-grünen Standort
Joschka Fischer hat ein Buch über die Globalisierung geschrieben, das verunsichern will. Oskar Lafontaine und Christa Müller haben eines geschrieben, das Arbeit und Wohlstand sichern will. Die Lektüre wirft die Frage nach der Gemeinsamkeit von Rot/Grün auf ■ Von Dieter Rulff
„Der Sozialstaat als Garant für stetig steigenden Massenwohlstand, diese Funktion wird sich unter den Bedingungen der Globalisierung und des Endes der Systemkonkurrenz wohl kaum aufrechterhalten lassen“, warnt der eine.
„Wir können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten. Wir werden viele Arbeitsplätze verlieren. So lautet die Drohung in einer Kampagne, die nur eines zum Ziel hatte: soziale Kürzungen und Lohnzurückhaltung durchzusetzen“, kontert der andere.
Eine der üblichen Standortdebatten, möchte man den Disput abtun, wenn sich nicht die beiden Kontrahenten mehr oder minder fest vorgenommen hätten, gemeinsam diesen Standort zu regieren. Joschka Fischer und Oskar Lafontaine wollen im Herbst einen Regierungswechsel herbeiführen. Ja mehr noch, einen Politikwechsel, der adäquate Antworten auf die Umbruchsituation liefert, in der sich Deutschland befindet. Die beiden Protagonisten des rot-grünen Projektes haben Bücher geschrieben, Lafontaine zusammen mit seiner Frau, der Volkswirtin Christa Müller. In ihnen lassen sich manche dieser Antworten finden. Deren Lektüre wirft allerdings eine neue, womöglich weitergehende Frage auf: die nach der nachhaltigen Gemeinsamkeit sozialdemokratischer und grüner Positionen. Nun sind die beiden Werke keine Parteiprogramme, doch beide Politiker verfaßten schon in früheren Jahren Bücher, um auf den Kurs ihrer Parteien Einfluß zu nehmen. Wie man an ihrer exponierten Stellung ablesen kann, nicht ohne Erfolg.
Die Titel der beiden Bücher lesen sich wie eine Ergänzung: „Keine Angst vor der Globalisierung, Wohlstand und Arbeit für alle“ lautet die sozialdemokratische Maxime, die der Grüne in den Aufruf „Für einen neuen Gesellschaftsvertrag“ münden läßt. Das jedoch ist nicht das Anliegen Oskar Lafontaines. Er pocht auf die Einhaltung des alten Gesellschaftsvertrages, der einem jeden die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ermöglichte. Wohlstand für alle, das ist die Devise der fünfziger Jahre, die er wieder in Kraft gesetzt sehen will – und, daran lassen er und Müller keinen Zweifel, die er wieder in Kraft setzen wird, wenn er die Regierungspolitik bestimmt.
Denn daß es an Wohlstand und Arbeit zur Zeit mangelt, ist für Lafontaine/Müller kein Resultat der Globalisierung. Es sei ein hausgemachtes Problem, zu verantworten von der Regierung Kohl. Deren angebotsorientierte Wirtschaftspolitik habe den Mangel an Arbeit produziert und zu einer bedenklichen Neigung des Wohlstandsgefälles geführt. Eine permanente Umverteilung von unten nach oben sei das, ideologisch untermalt von den Jeremiaden über die Schwäche des Standortes Deutschland. Dabei, so wundern sich Lafontaine/Müller, sagten die Zahlen das Gegenteil. Die beiden belegen so faktenreich die Stärken des Standortes, daß man ihr Buch getrost Helmut Kohl als Bettlektüre empfehlen kann.
Wieso dann im ewigen Kampf zwischen Kapital und Arbeit letztere in den zurückliegenden Jahren eine solch eklatante, allen nationalökonomischen Erfahrungssätzen widersprechende Schwäche zeigt, erschließt sich bei den beiden Autoren allerdings nicht. Ihr Feld ist nicht das der Analyse wirtschaftlicher Macht, sondern das der volkswirtschaftlichen Vernunft. Auf ihm führen sie ihre Auseinandersetzung mit der neoliberalen Politik der Ära Kohl. Sie wiegen sich in der Gewißheit, das bessere Modell zu präsentieren. Die Machtfrage, das ist für sie die Sonntagsfrage. Wird sie richtig beantwortet, so sorgt die Politik wieder für die gerechte Form des Wirtschaftens. Der Motor der Gerechtigkeit ist für Lafontaine/Müller nach wie vor das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, wie es im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Karl Schillers definiert ist. Die dort festgelegten Koordinaten des richtigen Wirtschaftens, das magische Viereck aus Preisstabilität, hoher Beschäftigung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum „besitzt nach wie vor Gültigkeit“. Dem will Lafontaine wieder zu seinem Recht verhelfen.
Ganz anders klingt das bei Fischer. Preise, Löhne, Einkommensverteilung, Freihandel, all dies „waren Entscheidungen der nationalen Politik oder der nationalen Tarifpartner und sind es heute nicht mehr oder fast nicht mehr“. Damit korrespondiere ein massiver Bedeutungsverlust von Wirtschaftspolitik. Die nationalen Volkswirtschaften „werden nach und nach von souveränen Volkswirtschaften zu abhängigen Angebotswirtschaften, die um die Gunst der globalisierten Märkte konkurrieren müssen“.
Nun könnte das Guido Westerwelle kaum schöner formulieren. Doch Fischer ist kein Angebotstheoretiker aus Überzeugung, eher einer aus bitterer Erfahrung der eigenen Niederlagen und der verpaßten Chancen. Auch jetzt warnt er die Linke davor, wieder in ihrem Etatismus zu verharren, denn „die bisherige Arbeitsteilung zwischen der demokratischen Rechten und Linken entlang der jeweiligen Hauptkompetenzen Produktion und Verteilung von Wohlstand wird unter den Bedingungen der Globalisierung nicht mehr funktionieren“.
Es lassen sich eine Reihe von Beispielen einer gescheiterten keynesianischen Nachfragepolitik benennen. Auch setzt der überschuldete Staatshaushalt einem deficit spending enge Grenzen. Fischer resümiert denn auch, daß die Strategie eines schuldenfinanzierten Staatsinterventionismus zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen „kaum mehr als externe Strohfeuer“ hervorbringen würde, sie sei „eine sichere politische Verliererstrategie“.
Lafontaine und Müller verbinden ihr Programm mit dem Versprechen, mittelfristig wieder Vollbeschäftigung zu erzielen. Sie knüpfen vorbehaltlos dort an, wo Helmut Schmidt Ende der siebziger Jahre aufhörte – obwohl dieser eigentlich schon damals gescheitert war. Fritz Scharpf, Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung und wohl kein Gegner der SPD, hat dargelegt, daß „von der Internationalisierung der Ökonomie in den siebziger Jahren zuerst die Möglichkeit betroffen (wurde), mit den geldpolitischen und fiskalpolitischen Instrumenten der keynesianischen Globalsteuerung die Vollbeschäftigung zu sichern“. Die Handlungsmöglichkeiten der nationalen Ökonomien haben sich seither eher verringert. Woher nehmen dann Lafontaine und Müller ihren Optimismus? Ist es überhaupt Optimismus, oder sind die vagen Ausführungen nicht eher das Pfeifen einer vertrauten sozialdemokratischen Erfolgsmelodie im dunklen Wald der künftigen Arbeitsgesellschaft? Vollbeschäftigung, das ist die Lebenslüge der SPD Ende der neunziger Jahre, die sie im vermeintlich sicheren Hafen einer Wachstumspolitik ausharren läßt, wo sie einen dezidiert politischen Kurs der Erneuerung und nolens volens des Risikos steuern müßte.
„Die verantwortlichen Politiker wissen ganz genau“, sagt die Autorin des furiosen Buches „Terror der Ökonomie“, Vivian Forrester, „daß es Vollbeschäftigung nie mehr geben wird. Aber sie sagen es uns nicht – aus Angst, angst zu machen.“ Wer angst macht, so ließe sich hinzufügen, gewinnt keine Wahlen. Und Angst, so lautet das deutsche Trauma, befördert noch immer den Rechtsextremismus. Wachstum suggeriert Sicherheit, sichere Beschäftigung, sichere Rente, Sicherheit vor sozialem Abstieg. „Hab keine Angst vor der Globalisierung!“ ist die letztlich defensive Botschaft der sozialdemokratischen Schnecke, die das schützende nationalstaatliche Gehäuse erst verlassen wird, wenn sie ein größeres gefunden hat, das genauso komfortabel ist. Sie wird womöglich lange suchen.
Fischer seinerseits zieht eine für ihn zwiespältige Konsequenz aus dem Scheitern des Keynesianismus. Er wendet sich konsequenterweise der „dienenden Funktion“ der Volkswirtschaft zu, der Pflege des Mittelstandes, der Förderung der Innovation und der Forderung nach einer neuen Unternehmenskultur.
Damit manövriert er sich jedoch in ein Dilemma, denn auch er muß eingestehen, daß kleine Unternehmen „eher die sozialökonomische Basis der neoliberalen Ideologie“ bilden. Weshalb ausgerechnet diese seine Positionen stützen soll, bleibt unerfindlich, zumal er eingesteht, daß sich seine Vorschläge erst langfristig rechnen – unter Einbeziehung gesellschaftlicher Folgekosten. Doch die wurden noch nie von betriebswirtschaftlichen Kalkülen erfaßt. Fischer liegt damit quer nicht nur zu Lafontaine, sondern auch zur etatistisch und vornehmlich ökologisch geprägten Mehrheit seiner Partei.
Fischer geht in seinen Überlegungen von der Beengtheit der bisherigen Politikangebote der Linken aus. Er hat sie in der eigenen Partei erlebt und nicht zuletzt an der Sozialdemokratie studiert. Ein Großteil der Vorschläge, die er in seinem Buch darlegt, sind konsequente Weiterentwicklungen einer sozialdemokratischen Programmatik, welche sich die Grünen im Laufe der Jahre angeeignet haben. Auch für die Grünen gilt mittlerweile das Primat der Gleichheit und Gerechtigkeit. Davon ausgehend war es allerdings schlüssig, den allmächtigen Rahmen kollektiver Daseinsvorsorge zugunsten flexiblerer Modelle zu verlassen. Sei es bei der Risikoabsicherung gegen Krankheit und Armut, sei es bei der Reform der Altersvorsorge.
Wenn Fischer formuliert, „die Entwicklung des ersten Arbeitsmarktes wird also auch weiterhin den zweiten Arbeitsmarkt bestimmen und nicht umgekehrt“, dann geht er über die Varianten der Arbeitsmarktpolitik hinaus, die bei den Grünen wie in der SPD favorisiert werden. Er geht allerdings nicht soweit wie der ehemalige US- Arbeitsminister Robert Reich und andere Autoren, die zu den Gewinnern des ersten Arbeitsmarktes allenfalls die Symbolanalytiker zählen, während sie in den routinemäßigen Produktionsdiensten und den Dienstleistungen mit abnehmenden beziehungsweise unsteten Beschäftigungsverhältnissen rechnen. Der Club of Rome trägt in seinem jüngsten Bericht dieser Entwicklung Rechnung, indem er einen öffentlich-privaten Sektor garantierter Beschäftigung fordert. Der französische Philosoph André Gorz befürchtet jedoch, daß ideologische und politische Widerstände überall verhindern, „daß dieser Abbau der Lohnarbeit in einen Zuwachs von Freiheit und freien Selbsttätigkeitsmöglichkeiten umgesetzt wird“.
Arbeit für alle, doch nicht mehr allein im klassischen Erwerbssektor, Teilhabe aller, doch nicht allein über die klassische Erwerbsbiographie vermittelt – so lautet die unangenehme Perspektive, die eine linke Politik gestalten muß. Sie bedeutet den Abschied von der Vorstellung, auf dem ersten Arbeitsmarkt sei Vollbeschäftigung zu erreichen. Fischer erkennt dieses Problem und scheitert, wo er es mit dem dünnmaschigen Netz probater Regierungspolitik- und Gewerkschaftskonzepte einfangen will. Er wird normativ, wo er nüchtern-analytisch bleiben sollte.
Fischers magisches Viereck lautet wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und rechtsstaatliche Demokratie. Der Anklang an die Schillersche Harmonie ist gewollt. Doch war dessen Stabilitäts- und Wachstumspolitk für ihre historische Phase weit kohärenter formuliert. Sie hatte in den Tarfipartnern voneinander abhängige Adressaten und im Staat einen eindeutigen Akteur. Fischers neue soziale Frage sucht noch ihren Ansprechpartner. Zwischen der Wettbewerbsfähigkeit und den übrigen Eckpunkten läßt sich kein schlüssiges Interessengeflecht herstellen. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit stellt sich künftig im europäischen Rahmen und wird nationale Antworten, womöglich auch auf seiten der Linken, provozieren. Das Lohn- und Leistungsgefälle zwischen den Standorten wird ein bestimmender Faktor des Arbeitsmarktes werden. Und noch ist nicht ausgemacht, welche demokratische Verfassung ein europäisches Regime erhält, das diese Prozesse steuern soll.
Es gibt kein kohärentes Gesamtkonzept zur Transformation der Arbeitsgesellschaft, das der demokratischen Teilhabe aller eine Grundlage gibt. Es existiert bestenfalls ein Katalog von Einzelmaßnahmen und Projekten. Das gilt es umstandslos anzuerkennen, dazu gehört allerdings, in einem Wahljahr allemal, Mut.
Joschka Fischer: „Für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Eine politische Antwort auf die Globalisierung“. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 338 Seiten, 39,80 DM
Oskar Lafontaine und Christa Müller: „Keine Angst vor der Globalisierung. Wohlstand und Arbeit für alle“. Dietz-Verlag, 352 Seiten, 28 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen