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Monster im verbotenen Zimmer

Sie stapeln Geschirr, horten Zeitungen und verschlampen Termine: 1.200 Menschen in Deutschland bekennen, im häuslichen Chaos zu versinken  ■ Von Daniela Weingärtner

Ulrikes Welt wird von Ecken beherrscht. Ecken sind in ihrer Welt gefräßige Monster, die bedrohlich wachsen, sich dick und fett fressen, sie erdrücken. Ecken sind ziemlich raffiniert. Sie verleiben sich die Lieblingsdinge ein, vermischen sie mit irgendwelchem Müll und rücken sie dann nie wieder raus. Eigentlich liebt Ulrike ihre Lieblingsdinge. Sehr sogar. Ihre Waschmaschine zum Beispiel. Die heißt Mathilda, und wenn sie kaputtgeht, wird Ulrike nicht so treulos sein, sie auf den Sperrmüll zu schicken.

Die Ecken auf Ulrikes Gefühlslandkarte sind nicht alle gleich. Es gibt Ecken, die sie in den Griff kriegen will, Ecken, die ihr zu schaffen machen, Ecken, an die sie sich derzeit nicht rantraut. Es sind die Ecken in zwei Räumen ihrer Dreizimmerwohnung. Die Tür zum dritten Raum bleibt stets zu. Das ist ihr „verbotenes Zimmer“.

Fast jeder „Messie“ hat ein verbotenes Zimmer. Manche haben eine verbotene Wohnung, eine Garage, von der keiner weiß, oder ein Auto, mit dem man nicht mehr fahren kann, weil es voll ist.

Warum Ulrike sich „Messie“ nennt? Weil ihre Päpstin Sandra Felton Amerikanerin ist. Felton war die erste, die öffentlich zugab, daß Gegenstände Allmacht über ihr Leben gewonnen hatten. Vor fünfzehn Jahren befreite sich die Amerikanerin vom Terror Chaos – auf englisch: mess – durch öffentliches Bekennen ihrer so lange geheimgehaltenen Sucht. Sie schrieb ein halbes Dutzend Bestseller und münzte ihre eigene Leidensgeschichte in US-Dollar um.

Für die meisten „Messies“ ist die erste Begegnung mit Feltons Büchern eine Offenbarung. Die Botschaft liegt voll im Trend amerikanischer Selbsthilfeideologie: Du bist nicht allein mit deinem Problem. Verstecke dich nicht länger, stell dich dem Chaos, nimm‘s mit Humor, packe es an. Sie gibt praktische Tips, wie die Monster in Schach gehalten werden können, und mahnt in jeder Neuauflage unverdrossen an: Do it now!

Deshalb also nennen sie sich „Messies“ – und: weil es freundlich klingt. Schließlich sind die meisten Messies nach Ulrikes Auskunft „idealistisch, spontan, impulsiv, eher positiv.“ Auf den wöchentlichen Sitzungen ihrer anonymen Selbsthilfegruppe wird viel gelacht, versichert sie. Und außerdem: Wie sollten sie sich sonst nennen? Kurz überlegt Ulrike und sagt dann in rheinischem Tonfall: „Vielleicht Schlampen und Altrücher e.V.“ „Altrücher“ heißen im Rheinland die Trödelhändler. Alt und Geruch steckt in dem Wort, und damit eine der vielen Ängste, die ein Messie-Leben beherrschen: Daß es riechen könnte. Gesundheitspolizei, Räumungsklage – für einen Messie sind das reale Bedrohungen. Schon deshalb lassen die meisten nicht gern Fremde in ihre Wohnung, Bekannte erst recht nicht. Was sollen die denken, wenn sie das Chaos sehen?

„So schlimm wird‘s schon nicht sein, ich hab' auch keinen Musterhaushalt“, bekommt ein Messie zu hören, der zudringliche Besucher von seiner Türschwelle vertreiben will. Aber der Messie weiß aus Erfahrung: Solch lachendes Geplänkel mündet, wenn er beiseite tritt, in peinlichem fassungslosem Schweigen. Viele haben seit Jahren niemanden nach Hause eingeladen. Und wer den Schock in den Augen eines ahnungslosen Handwerkers gesehen hat, der ist von geselligen Plänen erstmal wieder für lange Zeit geheilt.

An diesem Abend gibt es in der rheinischen Messie- Gruppe wenig zu lachen. Ursula ist zum ersten Mal da. Sie hat sich den Besuch bei der Selbsthilfegruppe an ihrem Geburtstag „gegönnt“, wie sie sarkastisch sagt.

Ursula ist eine gepflegte Dame von vielleicht fünfundfünfzig Jahren. Sie trägt weite senffarbene Kleider und eine glatte schlohweiße Herrenfrisur, die ihren schnörkellosen Typ unterstreicht. Ursula hat jahrelange Erfahrung mit Therapien und anonymen Selbsthilfegruppen. Entspannt lehnt sie sich zurück und zeichnet im „Blitzlicht“ zu Beginn der Sitzung mit wenigen routinierten Strichen ein Bild ihrer eigenen suchtzerfressenen Persönlichkeit. „Ich lebe seit dreißig Jahren allein. Seitdem geht es abwärts. Nach der Therapie war es kurz besser, aber seit acht Jahren ist das Chaos wieder komplett ausgebrochen. Ich bin eßsüchtig, liebessüchtig – ich stamme aus einer Suchtfamilie.“

Drei Menschen hat Ursula in den letzten zwei Jahren in ihre Wohnung gelassen. Noch immer erinnert sie sich an das Gesicht des Heizungsmonteurs. „Der wurde immer stiller, nachdem ich ihm den Weg durch die Wohnung gebahnt hatte. In der ganzen Siedlung wird der so etwas nicht noch einmal zu sehen kriegen.“ Kurz blickt Ursula auf und erzählt: „Ich hatte einmal eine Studentin bei mir wohnen, die sagte, es sei noch keine Junkie- Wohnung.“ Junkie-Wohungen sind wohl noch schlimmer. Die Zuhörer nicken mitfühlend.

Das Entsetzen, das Ursula vielleicht erwartet hat, bleibt aus. Es ist ein Grundprinzip der anonymen Messies, auf gute Ratschläge zu verzichten. Es fällt ihnen nicht schwer, sich daran zu halten, denn sie alle wissen aus Erfahrung, wie ausweglos die Lage hinter einer Wohnungstür sein kann.

Aber Ursula gibt sich nicht zufrieden. Sie ist heute abend hier, weil sie ihre Geburtstagsfete hat absagen müssen. In ihrer Wohnung hatte sie ein Fest geplant, Stühle sollten freigeräumt sein, das Bad präsentabel. Sie hat es nicht geschafft, sie hat alle wieder ausgeladen. Nun nimmt sie einen neuen Anlauf, ihr Chaos zu beherrschen, indem sie es herzeigt.

Nun sollen alle mit nach draußen kommen und sich ihr Auto ansehen. In ihrer dünnen Bluse, Sandalen an den nackten Füßen, marschiert Ursula entschlossen durch die kalte Nacht. Sie reißt die Fahrertür eines kleinen roten Wagens auf, schaltet die Innenbeleuchtung ein, klappt den Kofferraumdeckel hoch. „Der Kofferraum sieht wunderbar aus. Ich mußte ihn freiräumen, als ich die Mikrowelle gekauft habe.“ Stirnrunzelnd zieht sie einen Leinensack neben der großen Pappkiste mit dem Küchengerät hervor, schaut hinein und lacht: „Die Schuhe für die Volkstanzgruppe! Ich habe mich schon lange gefragt, wo die sind.“

Fast triumphierend zeigt Ursula auf die Rückbank. „Den Müllsack fahr' ich seit Oktober rum. Der Nachlaß meiner Tante ist drin. Und wenn ich einen Beifahrer mitnehme, dann kommt die Saunatasche oben drauf. So wächst das Schicht auf Schicht.“

Die deutsche Messie-Bewegung entstand vor vier Jahren, als Susanne Herms aus Göttingen ein Buch Sandra Feltons in die Finger bekam. Sie erkannte ihre eigene Leidensgeschichte wieder und erzielte nach der „Felton-Methode“ ungeahnte Erfolge im Kampf gegen das Chaos. Felton empfiehlt für den Anfang, sich vulkanischer Wut (Vesuv-Methode) hinzugeben und mit zwei Kartons – „Aufheben“ und „Wegschmeißen“ – die Wohnung zu durchforsten. Fortgeschrittene sollen nach der „Mount-Vernon-Methode“ vorgehen. Sie ist nach der Gedenkstätte für den amerikanischen Präsidenten George Washington benannt. Stoisch wie eine Mount-Vernon- Putzkolonne soll sich der Messie durch seine Wohnung arbeiten. Er führt aber nicht nur Putzmittel mit sich, sondern drei Kartons: Wieder zwei mit den Aufschriften „Aufheben“ und „Wegschmeißen“ und einen mit „Zu verschenken“.

In Deutschland gibt es inzwischen 17 Selbsthilfegruppen und 1.200 bekennende Messies. 12 Millionen müßten es sein, 15 Prozent der Bevölkerung, zu dieser Einschätzung kommt Sandra Felton. Vielleicht hatte die „Messie-Päpstin“ bei ihrer Berechnung die Wunschauflage ihrer Bücher im Blick. Tatsächlich sind bei 15 Prozent der Bevölkerung Geschirrberge im Spülbecken, verlegte Schlüssel und verschlampte Termine an der Tagesordnung. Aber allein das macht einen Menschen noch nicht zum Messie. Nur wer sich von seinem Chaos erdrückt fühlt, ist ein Fall für den Psychologen, die Selbsthilfegruppe.

Zum Beispiel Thomas. Jede Woche arbeitet er mit Ursula, Ulrike und den anderen daran, sein Chaos zu besiegen. Er hat die Gruppe sogar zu sich nach Hause eingeladen, um ihnen zu zeigen, wie tief er drinsteckt.

Hinter seiner Wohnungstür erwartet die anderen anonymen Mitmessies nun wirklich ein Schock: Die Wohnung ist hell, poppig möbliert und blitzblank aufgeräumt. „Aber hier“ – anklagend weist Thomas auf ein Dutzend akkurat gestapelter Zeitungen neben der Chaiselongue. „Es fing damit an, als ich als Zeitungsausträger jobbte“, sagt Thomas. Tageszeitungen, Beilagen, Wurfsendungen – Gedrucktes wurde zur Besessenheit, er mußte alles lesen, sich alles einverleiben, dann durchreißen und wegschmeißen. „Meine Bekannte nimmt die Zeitung“, er schnappt sich eine Zeitung und haut sie mit einer heftigen Bewegung durch die Luft; „meine Bekannte macht die Klappe vom Korb auf und wirft sie rein. Fertig. Und weg.“ Bewunderung und Verachtung mischen sich in seinem Ausdruck, wenn er über den achtlosen Umgang anderer mit Gedrucktem spricht. Thomas ist eigentlich ein fröhlicher und positiver Mensch. Sobald aber seine Sammelleidenschaft zur Sprache kommt, verändert er sich. Sein Blick wird durchdringend, fanatisch fast. „Man glaubt, wenn man sammelt, ist man irgendwie wertvoller für andere Menschen. Die Leute akzeptieren einen eher. Man will Wissen sammeln – das ist zwanghaft.“

Wie Ulrike hat auch Thomas ein „verbotenes Zimmer“. Es gehört aber nicht, zum Glück, zu seiner Wohnung, sondern ist ein Abstellraum in einer anderen Stadt. 500 Kilo Altpapier lagern dort, 40 Mark bezahlt er jeden Monat für die 40 Quadratmeter. Das ist ihm die Sache wert. 500 Kilo zu lesen, durchzureißen, wegzuschmeißen – es würde seine Kräfte übersteigen. Schon die drei Stunden, die er täglich damit verbringt, sich den Inhalt seines Postkastens einzuverleiben, erschöpfen ihn so sehr, daß er sich danach hinlegen muß.

Seit einiger Zeit hat Thomas ein neues Problem: Videos. Er reißt einen Schrank auf und zeigt anklagend auf die sorgfältig beschrifteten Stapel. „Ich finde es krankhaft, daß ich jetzt immer aufnehmen muß. Mein Recorder kann nur vier Programmwünsche speichern. Wenn ich verreise, läute ich schon mal bei Ulrike an.“

Der Abend bei der anonymen Selbsthilfegruppe endet – streng nach Felton – mit einer Blitzlicht- Runde der guten Vorsätze. Für einen Messie ist jede Woche Silvester. „Nächste Woche ist wieder Altkleidersammlung – und wenn es nur ein halber Sack wird, fest vor habe ich es“, sagt Ulrike. „Ich werde die Felton-Bücher noch einmal lesen“, murmelt Ursula. „Ich hab' auch schon überlegt, ein kleines Appartement zu mieten, nur die nötigsten Sachen mitzunehmen und vielleicht die große Wohnung aufzulösen – irgendwann.“ Thomas erzählt von seinem neuen Scanner. Alles was wichtig ist, wird eingescannt, der Festplatte einverleibt. „Der Scanner ist wie gemacht für Messies“, sagt Thomas fröhlich, und plötzlich glitzern seine Augen durchdringend: „Wenn mir dann der Computer mal abstürzt, dann sag ich: ,C'est la vie – arriverderci‘. Dann bin ich das Zeug los.“

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