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■ Um die Kosovo-Krise zu lösen, fehlt Europa eine taugliche Sicherheitsordnung. Und die Nato ist kein brauchbarer ErsatzFinger am Abzug statt Politik

Fliehende Menschen und niedergebrannte Dörfer: wieder dieselben Bilder. War Bosnien nicht Lehre genug? Kann es auf die neue Herausforderung im Kosovo überhaupt noch eine andere Antwort geben als die militärische – massiv und sofort, mit UNO-Mandat oder ohne? Der TV-Bürger in seinem täglichen Entsetzen darf so fragen, der Politiker darf es nicht. Zu lang ist die Liste der Fehler, die auf das Konto des internationalen Konfliktumfeldes gehen.

Wie lange muß eine Vorwarnzeit eigentlich dauern, bis die Politik reagiert? Mit passivem Widerstand haben die Kosovo-Albaner auf ihre politische Entrechtung hingewiesen, fast zehn Jahre lang. Es hat uns nicht interessiert. Seit drei Monaten sprechen die Waffen, und die Amtsstuben beben vor Entrüstung. Als das Dayton-Abkommen den Bosnienkrieg beendete, war der Zeitpunkt optimal für eine umfassende Initiative zur Regelung der ausgesparten Fragen. Der Kosovo hätte an die Spitze der europäischen Balkan- Agenda gehört.

Warum wissen wir nichts Verläßliches darüber, was heute im Kosovo wirklich geschieht? Alle Informationen stammen aus albanischer oder serbischer Quelle. Sie dürfen getrost als gefärbt betrachtet werden. Eine neutrale Beobachtermission der OSZE gab es vor Ort (wie auch in der Vojvodina und im Sandžak) bis zum Sommer 1993. Sie wurde als Reaktion auf die Suspendierung der jugoslawischen OSZE-Mitgliedschaft aus dem Land gewiesen. Der gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation anzugehören und mithin auch deren Regeln befolgen zu müssen sollte jedoch nicht als ein Privileg, sondern als eine Pflicht gelten.

Zahlt der Westen jetzt den Preis für seine im Ansatz verfehlte Balkanpolitik? Im Nordwesten Ex-Jugoslawiens begann die Abspaltungswelle, nun hat sie den Südosten erreicht. Der Kosovo ist albanischer, als Kroatien 1991 kroatisch war. Warum also nicht dasselbe verlangen, was den ehemaligen Landsleuten bereitwillig gewährt wurde: die völlige staatliche Unabhängigkeit? Genau darauf zielt politisch die in Priština wie in Tirana immer lauter erhobene Forderung nach Intervention der Nato. Gleiches Recht für alle – wieso eigentlich nicht?

Immerhin, diese Lektion scheinen die Balkanstrategen gelernt zu haben. Während es sie wenig kümmerte, was aus Bosnien werden sollte, als sie die slowenischen und kroatischen Wünsche unterstützten, sorgt sie nun das Schicksal Makedoniens. Dort lebt gleichfalls eine kompakt siedelnde albanische Minderheit, zunehmend anfällig für nationalistische Parolen. Die Abtrennung seines westlichen Landesteils könnte der makedonische Staat, die Beutemasse der Balkankriege dieses Jahrhunderts, schwerlich überleben. Sämtliche Nachbarn – Albanien, Serbien, Bulgarien, Griechenland – werfen begehrliche Blicke. Das würde dann mehr als nur ein Bürgerkrieg.

Das Auftreten einer bewaffneten Gegenmacht zur serbisch-jugoslawischen Staatsgewalt hat die Kosovo-Frage nur dringlicher, aber nicht einfacher gemacht. Das gilt auch für die Chancen jeder Einwirkung von außen. Der Westen setzt sich selbst unter unrealistischen Erfolgsdruck, wenn er Milošević zum Kern des Problems stilisiert: zumal sich in Belgrad die relevanten politischen Kräfte in Bezug auf den Kosovo einig zeigen.

Weit über den regionalen Konfliktanlaß hinaus geht das abenteuerliche Hantieren mit militärischen Optionen, die geltendem Völkerrecht widersprechen. Denn jenseits eines UN-Mandats existiert keine „entsprechende Rechtsgrundlage“, die der Nato-Rat in seinem Beschluß vom 11. Juni unterstellt – weder in der UN-Charta noch in der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, noch in irgendeiner gültigen Rechtsquelle sonst.

An klare Worte gewöhnt, nannte der US-Verteidigungsminister den weitestgehenden Schritt der Nato-Planung einen „Angriff gegen Jugoslawien“. In Deutschland stellt das Grundgesetz die Vorbereitung zur Führung eines Angriffskrieges unter Strafe. Wenn nun ausgerechnet im deutschen Bundestag angeregt wird, das Problem durch „kreative Interpretation des bestehenden Rechts“ zu lösen, so kommt die Empfehlung einer Aufforderung zum gleichzeitigen Bruch von Völker- und Verfassungsrecht nahe.

Wo immer während der letzten zehn Jahre in Europa Krieg geführt wurde, ging es um Separatismus und territorialen Revisionismus. Wirtschaftlicher Niedergang wirkt als verstärkende Kraft des brisanten Gemischs.

Daß Europa darauf keine Antwort wüßte, trifft nicht zu. Wie mit dem Wunsch nach Grenzveränderungen umzugehen ist, hat schon die Schlußakte von Helsinki festgelegt. Danach sind Grenzen nicht unveränderbar, aber sie sind unverletzlich. Das Recht auf Selbstbestimmung gilt, aber es ist der Pflicht zum Gewaltverzicht nachgeordet. Wer neue Grenzen ziehen und andere Staaten gründen will, muß den Weg friedlicher Verständigung gehen. Die Vereinigung Deutschlands ist so zustande gekommen, die Aufsplitterung Jugoslawiens nicht.

Osteuropa hat den Typus des homogenen Nationalstaates historisch nun einmal nicht ausgebildet. Er läßt sich auch nachträglich nicht schaffen ohne eine nach humanitären Prinzipien völlig indiskutable Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen. Deshalb ist die gerechte und friedliche Integration nationaler Minderheiten in ihre Gesellschaften die zivilisatorische Leistung, die den Osteuropäern abverlangt wird.

Ohne Konflikte wird das auch künftig nicht abgehen. Um sie zu meistern, hat Europa die falsche Sicherheitsordnung. Dieser Vorwurf trifft nahezu ausschließlich den Westen. Gebraucht wird ein intelligentes System ineinandergreifender Vorkehrungen der vorbeugenden Politik, der zivilen Streitregelung sowie notfalls auch der Unterbindung von Gewalt – all dies auf einer zweifelsfreien rechtlichen Grundlage und versehen mit der ungeteilten Autorität der Staatengemeinschaft des Kontinents.

Statt dessen hat Europa die Nato, die Werte-, aber auch Interessengemeinschaft, satzungsgemäß dem eigenen Wohl verpflichtet: ein Koloß, der vor Kraft nicht gehen kann, hervorragend gewappnet gegen die Gefahren von gestern, aber für die Probleme von heute ohne Konzept, Strategie und Instrumentarium. Nationalistischen Übermut zähmen kann sie – siehe Zypern – nicht einmal unter ihren Mitgliedern. Solange das so ist, bleiben politische Konfliktvorsorge und Gewaltverhütung wohlfeile Phrasen in Sonntagsreden. Reinhard Mutz

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