■ Vor 30 Jahren veröffentlichte der tschechische Schriftsteller und Journalist Ludvik Vaculik das folgenschwerste Manifest des Prager Frühlings: Erst 2000 Worte, dann 2000 Panzer
Vor 30 Jahren veröffentlichte der tschechische Schriftsteller und Journalist Ludvik Vaculik das folgenschwerste Manifest des Prager Frühlings
Erst 2000 Worte, dann 2000 Panzer
Eigentlich waren es 6.000 Panzer, nicht 2.000, die am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einfielen und dem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ ein Ende bereiteten. Aber ansonsten steckt in diesem Bonmot von den 2 mal 2.000 Worten und Panzern mehr als ein Körnchen Wahrheit. Kein demokratisch inspirierter Text der Zeit nach Januar 1968 hat die sowjetische Führung so gereizt, keiner hat das Adjektiv „konterrevolutionär“ so oft auf sich gezogen, nichts ist nachträglich so insistent zur Begründung der „brüderlichen Hilfe“ herangezogen worden wie Vaculiks „Manifest der 2000 Worte“. Vor 30 Jahren ist es in der Literarny noviny erschienen, dem Blatt des Schriftstellerverbandes, der Speerspitze der demokratischen Erneuerung. Das „Manifest“ hatte in der tschechoslowakischen Gesellschaft einen ungeheuren Widerhall. Vielen schien es beim Lesen, als ob sie aus einem langen, wüsten Traum erwachten. Als ob sie einfache, lang vergessene Prinzipien wiederentdeckten: Anstand, Ehre.
Vaculik kündigte in den „2000 Worten“ die Loyalität zur Dubček-Führung nicht auf, er forderte auch nicht die sofortige und vollständige Demokratisierung des Landes. Aber er stellte der 20jährigen kommunistischen Herrschaft eine vernichtende Bilanz aus: politisch, ökonomisch und moralisch. Die Anstrengungen der Reformkommunisten waren für ihn nur „Ratenzahlungen einer Schuld der ganzen Partei an die Nichtkommunisten, die sie im Zustand der Nichtgleichberechtigung erhalten hat“. Das Gravitationszentrum Vaculiks war nicht mehr die kommunistische Machtübernahme von 1948, sondern die demokratischen und sozialen Traditionen der Tschechoslowakei.
Die Prager Reformkommunisten sahen sich gegenüber den „2000 Worten“ in einem schrecklichen Dilemma. Sie hatten in ihrem Aktionsprogramm vom April 68 verabredet, Partei- und Staatsfunktionen weitgehend zu trennen, die legislativen Organe zu stärken und die Kommunisten der gesellschaftlichen Kontrolle auszusetzen. Also keine Neugründung politischer Parteien, aber freie Fahrt für unabhängige Bürgerinitiativen – und für die Presse. Es wäre für die Reformkommunisten nicht schwer gewesen, ihre Legitimationsbasis für ein Demokratisierungsprogramm im Volk zu stärken – vor allem durch einen rechtzeitig einberufenen Parteitag. Zu lang schreckten die Reformer davor zurück. Sie wollten die Dogmatiker einbinden, die Einheit der Partei wahren. So gerieten sie in die Zange. Auf der einen Seite verschärfte Drohungen der Sowjetunion, auf der anderen Seite eine zwar loyale, aber immer drängendere spontane Öffentlichkeit, der auch Vaculik zum Ausdruck verhalf. Da die Führung die neue Pressefreiheit nicht einschränken wollte, gab es keinen Ausweg aus dem Dilemma.
Nach der Besetzung wurde Ludvik Vaculik offiziell zur geächteten Unperson und gleichzeitig zu einer der gefeierten Hauptpersonen des literarischen und politischen Untergrunds. Seine politischen Feuilletons, sein wunderbarer Roman „Tagträume“ werden noch gelesen werden, wenn keiner mehr die Namen derer kennt, die nach 1968 zwanzig Jahre das Volk „normalisierten“. Christian Semler
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