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Der Totalausfall wuchtet ihn in die Kiste

Jürgen Klinsmann inszeniert das symbolisch-solidarische Sich-den-Arsch-Aufreißen, Oliver Bierhoff ist für die konkreten Momente zuständig – zusammen sind die deutschen Stürmer Berti Vogts' Hauptgrund, heute auf einen Sieg über Mexiko hoffen zu dürfen  ■ Von Peter Unfried

Nizza (taz) – Die Sache mit den Mexikanern ist eigentlich ziemlich einfach. Diese Jungs sind ja bekanntlich ein bißchen klein geraten. Also schlägt man im heutigen Achtelfinale in Montpellier (16.30 Uhr, ZDF) ein paar hohe Bälle – und die deutschen Stürmer wuchten die dann in die Kiste.

Moment, bitte: Natürlich ist es nicht so einfach. Das fängt schon damit an, daß man selbstredend nicht bloß den Ball vorkloppt. Man „überbrückt schnell das Mittelfeld“, wie Berti Vogts das nennt, damit es „vorne 1:1-Situationen gibt.“ Nun spielt Mexiko zugegebenermaßen anders als der Iran, im wesentlichen gilt aber: Wollen die kreativarmen Deutschen gewinnen, müssen von den bislang defizitären Außenpositionen wenigstens ein paar Bälle die Stirn von Jürgen Klinsmann oder noch besser die von Oliver Bierhoff erreichen. „Beide Stürmer“, sagt der DFB-Trainer, „haben ihr Soll bisher erfüllt“. Mehr als das: „Mehr als das.“

Wenn man für einmal nicht über die mannigfaltigen Probleme im DFB-Team reden will, sondern über dessen Stärken, ist man zwangsläufig schnell bei den Angreifern. Klinsmann (33) und Bierhoff (30), das hat die WM-Vorrunde gezeigt, sind zwei Stürmer, mit denen man Spiele gewinnen kann. Besser: Wegen denen.

Beide Treffer von Bierhoff wurden nach Flanken von rechts per Kopf erzielt. Die erste (gegen Jugoslawien) kam von Thon, die zweite (gegen den Iran) von Thomas Häßler. Seine Sprungkraft ist so enorm, sein Geschick sich zu lösen und sein Gespür für den richtigen Moment des Absprungs so gut, daß sein Kopfstoß nach einer guten Flanke auch von zwei Gegenspielern nicht mehr zu verhindern ist. „Icke Häßler“, sagt Bierhoff, sei „in der Hinsicht sowieso mein Freund“. Zehn seiner 19 DFB- Tore hat Häßler, über die rechte Seite kommend, möglich gemacht.

Auch Klinsmann schätzt übrigens, daß die Hälfte seiner 46 Länderspieltore von Häßler eingeleitet worden wären. Der Kapitän ist nach wie vor überzeugt davon, Fußball sei eine Frage des organisierten Sich-den-Arsch-Aufreißens. Und Gewinnen eine Frage der Intensität, mit der man ersteres betreibe. Er sieht aber auch, daß – wo sonst nichts ist – es Häßlers Restpotential an „Kreativität und Spielwitz“ braucht, damit die Anstrengungen nicht verpuffen, sondern in Toren münden.

Es ist interessant zu beobachten, wie aktuell arbeitende Fachjournalisten immer noch nach Bierhoff-Toren aufgeregt in ihren Redaktionen anrufen, um das Wort „Totalausfall“ wieder aus ihren Texten zu bekommen. Vielleicht redet Bierhoff deshalb so häufig von der Zahl seiner Tore, weil er um das Problem der Leute weiß, ihn und sein Spiel zu sehen. Bierhoff weiß selbst, was er nicht kann. Er sagt es auch. Er weiß aber auch, was er kann. Er ist inzwischen so selbstbewußt, sich hinzustellen und zu sagen: „Wenn man mit einem Bierhoff spielt, muß man ihn auch richtig einsetzen.“

Bierhoff sagt, er sei ein „sehr konkreter Spieler“. Das ist eine wunderbare Definition. Klinsmann symbolisiert sein Prinzip des solidarischen Sich-den-Arsch- Aufreißens persönlich und jedesmal aufs neue, damit es Kollegen und Gegner nie vergessen. Im Gegensatz zum Kapitän ist tatsächlich nichts, was Bierhoff macht, symbolisch gemeint. Während Klinsmann mit Emotionen arbeitet, bleibt Bierhoff immer rational. Klinsmann ist wie selbstverständlich in die Uwe-Seeler-Rolle von Mexiko 1970 geschlüpft, die des uneitlen Rackerers im Dienste des Allgemeinwohls. Er sagt, er habe „kein Problem“, Bierhoff die Gerd-Müller-Position zu überlassen. Bierhoff ist auch nicht „eigensinnig“, wie das gerne vermutet wird. Beide WM-Tore von Klinsmann hat er vorbereitet, das erste mit Präzionsflanke, das zweite unabsichtlich, aber immerhin.

Grundsätzlich ist es aber schon so, daß es Bierhoff ist, der nicht Fußball spielt. Er kann ja nicht einmal aus vollem Lauf einen Gegenspieler ausspielen. Klinsmann kann einen Bogen um ihn rennen. Bierhoff ist eigentlich ausschließlich da, um Tore zu schießen. Und genau das macht er. Klinsmann, diese kleine Pointe wird nun niemand mehr überraschen, ist da, um Klinsmann zu spielen.

Gestern kam er kurz vor dem Abflug nach Montpellier in die Turnhalle von Nizza. Mexiko? „Wenn wir das Tempo hochhalten, die Zweikämpfe gewinnen, dem Gegner den Schneid abkaufen“, sagte er da frohgemut, „möchte ich die Mannschaft sehen, die gegen uns gewinnt.“ Ist ausgerechnet Klinsmann die 90er-Jahre-Version des urdeutschen Kapitänshelden von 1966 und 1970? „Was ich an Seeler immer bewundert habe,“ sagt er, „ist seine Art, nie aufzustecken.“ Bei Bierhoff kann man nicht einmal sicher sein, daß er Seeler überhaupt kennt.

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