: Die Haustürmafia und die Bückboten Von Ralf Sotscheck
Ab zehn Uhr morgens werde ich unruhig. Gleich kommt der Briefträger, und ich muß vor ihm an der Tür sein, damit er sich nicht bücken muß. Unser Briefschlitz ist nämlich tief unten in der Tür angebracht, und die Postgewerkschaft hat gedroht, solche Häuser künftig nicht mehr zu beliefern. Ich habe erwogen, einen neuen Briefschlitz in Brusthöhe in die Glastür zu montieren, aber meine Lehrerin hatte mir vor 30 Jahren verboten, jemals wieder einen Glasschneider – oder sonst irgendein Werkzeug – anzurühren, nachdem ich im Werkunterricht versehentlich drei große Glasscheiben und meine Hand ruiniert hatte.
Die Diskussion um niedrige Briefschlitze ist durch ein Gerichtsurteil neu entfacht worden. Der Postbote Ian Barclay hat umgerechnet mehr als 100.000 Mark Schadenersatz zugesprochen bekommen, weil er sich aufgrund der ständigen Bückerei den Rücken verletzt hatte. Seine Gesundheitsprobleme begannen im Juni 1993, als er bei einem Niedrigbriefkastenschlitzhaus im Dubliner Stadtteil Terenure nicht mehr auf die Beine kam, zumal er noch den 35 Pfund schweren Postbeutel umgeschnallt hatte. Er kroch zum Postamt zurück und meldete sich krank. Vier Monate später war er wieder arbeitsfähig, doch der Amtsvorsteher teilte ihn ausgerechnet für eine Neubausiedlung in Mount Argus ein – 350 Häuser, alle mit Briefschlitzen in Knöchelhöhe. Das gab dem Postboten den Rest, er mußte operiert werden.
Dabei ist das Thema keineswegs neu: Die Postgewerkschaft hatte bereits vor langer Zeit beantragt, eine Durchschnittshöhe gesetzlich festzulegen, die auf die Durchschnittsgröße der Postboten abzustimmen sei, aber die Lobby der Türfabrikanten hatte sich dagegen gewehrt. Es ist billiger, die Schlitze knapp über dem Boden anzubringen, weil man bei Holztüren sonst eine verstärkte Mittelstrebe einbauen müsse, argumentierte man. Ein Zeuge erklärte, der irische Haustürmarkt sei heiß umkämpft, deshalb käme es auf jeden Penny an, den man einsparen könne. Und den Schadenersatz für rückenlahme Postboten muß die Haustürmafia ja nicht zahlen.
Das Umweltamt, das in Irland auch für die Briefeinwurfsöffnungen zuständig ist, informierte die Post 16 Jahre nach der Antragstellung, daß es einzig und allein Sache der Post sei, wie sie die Briefe an die Kundschaft bringt. Die Richterin, die Barclay das Schmerzensgeld zugesprochen hatte, rügte das Umweltamt in ihrer Urteilsbegründung für „die negative Einstellung“ gegenüber den Bückboten und verwies die Sache an das Gesundheitsamt und das Institut für Architektur.
Solange der rechtliche Schwebezustand anhält, muß ich morgens zur Tür rennen. Neulich kam ich einen Moment zu spät: Der Briefträger hatte die Post bereits halb durch den Schlitz geschoben, als ich die Schiebetür aufriß. Weil der kniende Bote die Briefe noch in der Hand hatte, warf ihn der Schwung zu Boden. Er lag da wie ein Käfer, sein Postbeutel war ausgekippt, die Zeitung für den Nachbarn lag in einer Pfütze. Seitdem schleicht sich der Postbote an der Wand entlang zur Haustür und schiebt die Briefe blitzschnell unter die Fußmatte. Die ist aber noch tiefer als der Briefschlitz. Demnächst bin ich nur noch per E-Mail zu erreichen. Die wird wenigstens in Augenhöhe angeliefert.
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