: Überfällige Befreiung aus dem Multikultizoo
„Der Mond isst die Sterne auf“ heißt der erste Roman der in Istanbul lebenden Autorin Dilek Zaptçioglu. Die Geschichte ist ihr gelungen. Zu lesen ist ein aktuelles Stück über das Deutsche und Türkische in einer Stadt wie Berlin. Offen bleibt am Ende: Wer ist Freund, wer Feind? ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Die neunziger Jahre hätten das Jahrzehnt werden können, in dem Deutschlands Westen zur Besinnung kommt. Zwanzig, dreißig Jahre nach der Revolte der Achtundsechziger schien das Land langsam aus den Schatten seiner Vergangenheit herauszutreten.
Es fand den zivilgesellschaftlichen Anschluß an die westliche Welt. Nicht als ein Lippenbekenntnis wie in den fünfziger und sechziger Jahren, sondern als Herzens- und Verstandesangelegenheit. Die Definitionsmacht der Krieger- und auch Tätergeneration war gebrochen, die ideologischen Schlachten der siebziger Jahre waren erfolgreich geschlagen.
Am deutlichsten war dieser kleine Aufbruch Ende der achtziger Jahre in Berlin zu spüren. Es tat sich etwas in der Republik. Schwule, Lesben und Ausländer traten selbstbewußt aus ihren Nischen. Offensiv klagten sie ihre Bürgerrechte ein. Wollten Gleiche unter Gleiche sein.
Und es schien, als würde endlich alles gut, zumindest ein bißchen besser. Auch für Ömer Gülen, Sohn eines Gastarbeiters aus der Türkei – 1975 in der anatolischen Stadt Kayseri geboren, aufgewachsen in Berlin, wohnhaft im gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Charlottenburg.
Wäre die Bundesrepublik Deutschland das normale Land, das sie gerne wäre, hätte Ömer die ganz normale Biographie eines Kindes aus einer Migrantenfamilie gelebt – 1994 Abitur, Einbürgerung, dann Jurastudium, Karriere und irgendwann einmal eine eigene Familie. Aber Deutschland ist kein normales Land.
1994 im Mai, wenige Wochen vor seiner Abiturprüfung, nimmt Ömers Leben eine radikale Wendung. Eines Morgens klingelt die Polizei an der Wohnungstür und teilt mit, daß sein Vater in Berlin-Kreuzberg in den Fluß gefallen ist und auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Koma liegt. Ein ganz gewöhnlicher Unfall oder ganz normaler Selbstmordversuch?
Nicht im Berlin der neunziger Jahre. Bereits am nächsten Tag nimmt die Geschichte einen für die Zeit nach der Wende typisch deutschen Verlauf. „Nun reicht's!“ titelt die türkischsprachige Zeitung Yeni Vatan (“Neues Vaterland“). Weiter schreibt sie: „Fragen an die deutsche Polizei: Wo sind die Skinheads, die am Tatort gesichtet wurden?“
Dilek Zaptçioglu hat für ihren Erstlingsroman „Der Mond isst die Sterne auf“ eine Rahmenhandlung gewählt, die das Scheitern als gewiß erscheinen läßt. Es ist just der Stoff, aus dem schon viel zu viele miese Krimis gedreht wurden. Kriminalfilme, in denen uns die Macher kein Klischee vorenthalten und mit pädagogischem Zeigefinger mahnen: Liebet Eure Türken! Türken, Skinheads, deutsche Polizisten – das läßt sich zu jedem erdenklichen Weltanschauungskitsch zusammenrühren. „Der Mond isst die Sterne auf“ zeigt, wie es besser geht.
Mit bemerkenswerter Sicherheit geht die Autorin diesen schmalen Grat, ohne jemals ernsthaft in Gefahr zu geraten, peinlich zu werden. Ihr Roman ist kein aufgeregt belehrender Roman über Neonazis, kein Rührstück über das ach so schwierige und zerrissene Leben des Türkenmannes und der Türkenfrau zwischen den Kulturen. Er ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der erste deutschsprachige Entwicklungsroman über einen deutsch-türkischen Jugendlichen vor dem Hintergrund der neunziger Jahre.
Und ein solcher kommt an ausländerfeindlichen Pogromen und Übergriffen schlicht nicht vorbei. Sie sind für die heute achtzehn- bis fünfundzwanzigjährigen Deutsch-Türken die Generationserfahrung, quer durch alle sozialen Schichten.
Darüber hinaus ist Ömer ein Heranwachsender aus kleinbürgerlichen Verhältnissen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Unversehens, durch das Unglück oder Attentat, wird er mit den Fragen konfrontiert: Welchen Platz soll ich in der Gesellschaft haben? Wer ist Freund, wer Feind? Kann ich die Verantwortung, die an mich herangetragen wird, übernehmen? Wieviel Naiv-Kindliches an meinem Vater- und Mutterbild ist stimmig? Welche Wahrheit über meine Eltern kann ich ertragen? Zeitlose, universelle Fragen, die literarisch in zahlreichen Variationen behandelt wurden und mit denen die Autorin alle Ömers ins ganz normale Leben holt. Wer ist schon nur „Kanake“?
Zaptçioglu befreit die Ömers aus dem Multikultizoo, in den die Kanaksprakliteratur die Alis der Nation pfercht und wofür diese vom bundesdeutschen Feuilleton mit Lob überschüttet wird.
Die Suche nach der Wahrheit – ist der Vater Opfer eines Skinhead-Überfalls? – führt Ömer Gülen durch ein neurotisches Berlin, das seine alte Mitte verloren oder eine neue noch nicht wieder gefunden hat. Es ist ein in viele Teile zerbrochenes Berlin. Teile, die scheinbar nicht zusammenpassen, sich aber auf geheimnisvolle Art zu etwas fragilem Ganzen fügen. Da ist der Bruder Adnan, der ein italienisches Restaurant betreibt, sich um des geschäftlichen Erfolges willen lieber Adriano nennt. Wer würde einem türkischen Kneipier auch einen Latin Lover abnehmen?
Ein weiterer Aspekt ist das Verhalten der Medien. Wie nicht anders zu erwarten, greifen die deutsch- und die türkischsprachige Presse gierig nach dem Fall. Interessant ist für sie weniger die Suche nach der Wahrheit, vielmehr die Frage: Wieviel Nektar für die eigene Weltanschauung läßt sich daraus ziehen?
Die Suche nach Wahrheit gebiert nur im Trivialen Gerechtigkeit. In „Der Mond isst die Sterne auf“ werden auch die Gerechten – der Freundeskreis von Ömer – zumindest vorübergehend böse. Zum Beispiel, als sie einen x-beliebigen Skinhead in einer Art Sippenhaftung entführen und mißhandeln. Oder als der Freundeskreis von Ömer – Türken, Araber und Deutsche – zusammensitzt und berät, wie sie die Ermittlungen über den angeblichen Unfall selbst in die Hand nehmen können, um sie zu beschleunigen.
Der Dialog, der sich um die umstrittene Frage entspannt, ob die deutschen Freunde mit dabeisein dürfen, gehört mit zur beeindruckensten Passage des Buches. Was eine Jugend lang zusammengehörte, droht wieder in ein unversöhnliches Ihr und Wir zu zerfallen.
Plötzlich zählen die Gene, die ethnische Herkunft mehr als das bis dahin gemeinsam verbrachte Leben. Auf wenigen Seiten breitet die Autorin die ganze Tragik einer multiethnischen Generation aus, die verschiedene Pässe in ihren Taschen trägt, aber gemeinsam aufgewachsen ist. Welche Schwierigkeit liegt plötzlich in dem Gedanken, zu einem unverrückbaren Wir zu kommen. Nie wirken die Jugendlichen verlorener, nie so auf sich alleine zurückgeworfen wie in diesem Moment. Erst als einer der Streitenden darauf aufmerksam macht, wie nahe sie ihren Gegnern, den Nazis, in ihren Argumenten bereits sind, daß sie also kurz davor stehen, das Blut auszuzählen und den Schädelumfang zu vermessen, siegt die Vernunft über die Unberechenbarkeit der Emotionen.
Was geschah in der Nacht, als Seyfullah Gülen in den Fluß stürzte? Was hatte er an diesem Ort zu suchen? Weshalb blieb er an den Abenden, in denen er für Stunden außer Haus war, immer nur für kurze Zeit in der Teestube, einer bekannten Zockerkneipe am Kottbusser Tor in Berlin- Kreuzberg? Was ist das Geheimnis der alt gewordenen Gastarbeiter, die sich hier treffen und mehr voneinander wissen, als sie den bohrenden Fragen von Ömer preisgeben wollen? Es bedarf viel kriminalistischen Spürsinns der Clique, bis sie das Geheimnis von Ömers Vater lüften.
Waren es nun die Skins oder nicht, die Seyfullah Gülen in den Fluß stürzten? Die Ereignisse der Nacht bleiben ungeklärt, wie so viele im Deutschland der neunziger Jahre. Eine Ungewißheit, die dieses Jahrzehnt so quälend macht, weil es auch die Gewißheit brachte, daß es ein Skin-Attentat gewesen sein könnte.
Für Ömer bleibt bei der Suche nach der Wahrheit nur diese: Niemand ist so einfach gestrickt, wie wir glauben. Schon gar nicht der eigene Vater. Und dessen Leben hat meist mehr zu bieten, als der zornige, in die Zukunft stürmende Jüngling glauben möchte, der nur den gealterten Mann in ihm sehen will. Zumindest das Geheimnis des Vaters wird gelüftet.
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