piwik no script img

Klassenzimmer bei Nacht

■ Nach 500 Metern ist es fünf Uhr morgens: Samstag nacht wummerte der siebte „Time Tunnel“ im Esso-Park-Bunker

„Jeder hat hier seine ganz persönlichen Charts“, behauptet Dennis, 26, und springt wieder weg, weil gerade genau so ein persönlicher Nummer-Eins-Hit laufe: „Da ist vor zwei Jahren jeder drauf abgefahren.“ Jetzt offensichtlich auch noch. Ein wenig freudlos ruckeln die Körper zu den Beats, um nach zwei Minuten der immergleichen Bewegungseinheit, ewig wiederholt, aus der vermeintlichen Ekstase herauszufallen und sich nervös nach Zuschauern und potentiell Abzuschleppendem umzuschauen. Richtig gut gelaunt wirkt keiner beim Abrufen der Bewegungslitanei, die so schwierig auswendig zu lernen war. Und wenige gehen wirklich darin auf.

Die wilden Tänzer wackeln im Parkhaus unter der Reeperbahn dem Morgengrauen entgegen. Der Esso-Park-Bunker ist, selbstverständlich, eine „Mega-Location“. Eigentlich eine Notlösung für den siebten „Time Tunnel“, der nicht am Steintorwall stattfinden konnte, wird das Parkhaus natürlich als besonders großartig angepriesen. Warum aber verzieht man sich auf der Suche nach dem hippsten aller Orte in ein ordinäres Parkhaus? „Bitte Motor abstellen – Vergiftungsgefahr“ hat etwa soviel verruchten Charme wie ein Klassenzimmer bei Nacht: In der Grundschule war das aufregend. Karg ist das Parkhaus wohl, doch entbehrt es jeglicher Industrieästhetik, die der Raver benötigt, um sich an der Gefühlskälte der Endneunziger aufzugeilen.

Trotzdem wagen Trauben von Technofreunden den Tunneldurchlauf für 40 Mark. Auf der einen Seite geht's rein, in der Mitte wird getanzt und nach 500 Metern ist es fünf Uhr morgens. Endlich kann gechillt werden. Wilde Farb- und Formprojektionen am Ausgang sollen die aufgedrehten Pillenschlucker darauf einstimmen. Nur findet niemand so recht die Ruhe, um sich in der Tunnelatmosphäre auf Bildergucken einzulassen.

Im tanzenden Pulk ist wenig Schick, gar kein Glamour und viel Bomberjacke. Aufgebrezelt sind allein die chicks hinter dem Getränkestand. Kein Fleck am Körper, der nicht funkeln und glitzern würde – bis auf die toten Augen. So heterogen wie ihre Garderobe sind die Besucher selbst, doch eins verbindet sie: Alle bemühen sich verzweifelt, dem Gewumse etwas abzugewinnen. In der riesenhaften Tiefgarage wirken noch so viele Raver doch etwas verloren.

Die einzige und wahre Techno-Königin des Abends – mit Stiefeln, einem Hauch von Kleid und einer ungeheuer puscheligen Tasche – muß gegen drei mit dem Notarztwagen abtransportiert werden.

Tina von Löhneysen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen