Kommentar: Geschäfte unter Brüdern
■ Rußlands Oligarchen sind für die Finanzkrise verantwortlich
Man soll keine Nachricht glauben, ehe sie nicht dementiert worden ist. Diese Regel ist in Rußland bittere Wahrheit. Wenn Präsident Jelzin noch am Sonnabend eine Abwertung des Rubels ausgeschlossen hatte, so fragt sich heute niemand mehr im Lande, welcher Berater ihm diese Schnapsidee eingeflüstert haben mag. Man hat sich längst daran gewöhnt, daß der Präsident das eine sagt und das andere tut.
Eine Wiederwahl Jelzins und eine niedrige Inflationsrate – diese beiden Faktoren zusammengenommen würden dem Lande mit der Zeit schon ein ökonomisches Wachstum garantieren, so lautete die Hoffnung, die der Internationale Währungsfonds und der Westen jahrelang hegten. Aber die Turbulenzen, die die russische Wirtschaft in den letzten Tagen durchlebte, beweisen nun, daß dies ein Irrglaube war. In Wahrheit herrscht im Lande eine politisch-ökonomische Vetternwirtschaft, die echte Wirtschaftsreformen und eine marktwirtschaftliche Konkurrenz ausschließt.
Die alten Nomenklatura-Bosse konnten sich während der Privatisierung einen Großteil der ehemaligen Staatsbetriebe aneignen. Danach wurstelten sie wie gewohnt weiter, mit gegenseitiger Verschuldung unter Bruder-Unternehmen. Daß auch der Staat das Spiel mit den Geldsurrogaten eifrig mitmachte, offenbarte in diesem Sommer der unvermeidliche Zusammenbruch der Pyramide der Staatsanleihen. Das Fehlen einer vernünftigen Finanzpolitik lähmte das Steuersystem.
Unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds hat Premier Kirijenko versucht, das Ruder kurzfristig herumzureißen, indem er gleiche Regeln für alle einführen und auch die aus der Sowjetzeit ererbten Energiemonopole besteuern wollte. Aber deren Chefs trugen kräftig dazu bei, das Staatsschiff ins Schlingern zu bringen. Den russischen Oligarchen ist es gleichgültig, daß die Lohnabhängigen unter der Rubelentwertung am meisten zu leiden haben. Sie erhalten die ihnen vom Staat geschuldeten Gehälter nun als relativ wertlose Münze. Ex-Ministerpräsident Tschernomyrdin, führender Manager des Erdgas-Monopolisten Gasprom, hat trotzdem gut lachen. Während seiner Regierungszeit gab es keine Anzeichen dafür, daß er sich um die langfristigen sozialen Folgen seiner Politik den Kopf zerbrach. Ihr Grundprinzip, dem heute auch Kirijenko folgt, lautet: Nach uns die Sintflut. Barbara Kerneck
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