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Der gekränkte Kulturbeauftragte

Deutsche Intellektuelle haben nur selten einen feinsinnigen Blick auf die unteren Stände gehabt. Meist haben sie das, was sie für Massenkultur hielten, gehaßt – mindestens für hilfsbedürftig erachtet. Seit den sechziger Jahren haben sie sich tapfer gemüht, dem Volk kulturell auf die Beine zu helfen. Besonders Hans Magnus Enzensberger – einer der inspirierendsten Denker Nachkriegsdeutschlands – hat versucht, deutsche Proleten und Kleinbürger vor Versuchungen der Unterhaltungsindustrie zu bewahren. ImLaufe der Jahrzehnte hat er allerdings erkennen müssen, daß niemand auf seine pädagogischen Angebote gewartet hat. Mehr noch: Man hat ihn souverän überhört. Nun zieht er sich beleidigt aus der „Mehrheit der Beschallten“ zurück. Eine Polemik  ■ Von Roman Luckscheiter

Der Autor zeigte sich genervt: Allerorten werde man von Musikberieselung verfolgt, von einem „fetten Tonbrei“ im Supermarkt, von „musikalischen Komposthaufen“ in der telefonischen Warteschleife, von Indios in der Fußgängerzone, von Fünfhundert-Watt- Verstärkern auf Straßenfesten. Hans Magnus Enzensberger, der Essayist, der vor gut einem Jahr im Spiegel seinem Ekel vor den „Brüllaffen“ und seinem Unverständnis gegenüber der duldenden „Mehrheit der Beschallten“ Luft machte, hat sich schon einmal mit dem Musikkonsum der Massen beschäftigt. Damals war er zu dem Schluß gekommen, daß das „deutsche Proletariat“ und das „deutsche Kleinbürgertum“ in einem Zustand lebe, „der der Idiotie näher ist denn je zuvor“.

Das war 1960, als er in der Zeit den Katalog eines Versandhauses einer kulturkritischen Analyse unterzog. Zu jenen Massenartikeln des Katalogs, denen seine besondere Aufmerksamkeit galt, gehörte eine Stereoanlage: „Und was spielt sich auf der Superluxusstereokonzerttruhe ab? Antwort: Der Hohenfriedberger Marsch, das Largo von Händel... O sole mio. Stumpfsinn auf zwei Kanälen, mit acht Röhren und siebzehn Kreisen, Balanceregler und Vollstereo-Kristallsystem in Edelholzgehäuse.“

Der Ausspruch über die „Idiotie“ war aber vom Autor Enzensberger nicht als Vorwurf an das Kleinbürgertum gedacht, sondern an die Regierung, an die Industrie, an die Gewerkschaften und an die Intelligenz, welche die „Verblödung einer Mehrheit“ aus eigenem Machtinteresse vorantrieben beziehungsweise duldeten.

Das Gefühl, sich als Intellektueller der Massen annehmen zu müssen, die unschuldig in die Rolle des Opfers geraten und der kapitalistischen „Bewußtseinsindustrie“ hilflos ausgeliefert seien, wurde zu einem zentralen Stimulans literarischen Engagements der sechziger Jahre.

Enzensberger beließ es damals nicht bei sprachkritischen Untersuchungen der Printmedien. Er entwickelte ein Medienmodell, das er 1970 in dem von ihm herausgegebenen Kursbuch vorstellte. Die Beschaffenheit der neuen Medien – Zugang zur Information für alle, dadurch Aufhebung des Bildungsprivilegs, beliebige Reproduzierbarkeit der Programme und die technische Möglichkeit, nicht nur zu empfangen, sondern auch zu senden – sollte fruchtbar gemacht werden im Sinne eines aufgeklärten und sich selbst aufklärenden Volkes. Aufgabe für den Intellektuellen sei es, die Bedürfnisse der Massen vor dem Zugriff der „Bewußtseinsindustrie“ zu bewahren und sie „kulturrevolutionär“ einzulösen.

Nun sind wir heute in der glücklichen Lage, eine Kulturrevolution nicht erlebt zu haben. Auch deren einstiger Vertreter Enzensberger hat ihr längst ebenso abgeschworen wie den abstrakten Begriffen von Bewußtseinsindustrie, Kapital und Masse. Statt dessen verkündet er, wiederum im Spiegel: „Der Klassenkampf findet [...] nicht statt – ihn ersetzt das Spektakel. Die Oberflächenästhetik siegt.“

Wie aber läßt sich diese Weiterentwicklung der Massenkultur auf Begriffe bringen, die wissenschaftlicher sind als die Verblödungsthese und realistischer als die paranoide Vorstellung von einer Bewußtseinsindustrie, die den Interessen von Kapital und Macht zuarbeitet?

Der Zürcher Philosoph und Kunsthistoriker Tobia Bezzola hat in seinem Aufsatz „Das Lachen der Beatles und das Schweigen von Marcel Duchamp“ den Begriff der „Massenbohemisierung“ in die Diskussion gebracht, als er die kultursoziologische Entwicklung der westlichen „nachindustriellen“ Gesellschaften und insbesondere der Bundesrepublik beschrieb. „Boheme“ ist dabei zu verstehen als ein ungebundenes, ursprünglich künstlerisch inspiriertes Gruppenleben. Sie gilt geradezu als „Komplementärphänomen“ einer prosperierenden bürgerlichen Gesellschaft, wie sie in besonderem Maße das Jahrzehnt nach der Währungsreform in der Bundesrepublik hervorbrachte.

Für Bezzola steht die Jahreszahl 1968 für den „Höhepunkt der Bohemisierungswelle“, von dem aus die „Pluralisierung der extravaganten Stilisierungen der äußeren Erscheinung“ ebenso ihren Siegeszug antrat wie die „entsprechende Gestaltung der unmittelbaren Wohnumgebung“.

Die kleinbürgerliche Jugendkultur der fünfziger und sechziger Jahre – und nicht avantgardistische Kunstströmungen – habe die entscheidenden Impulse für die Bohemisierung der Massen gegeben: „Einzig sie verfügte seit Mitte der fünfziger Jahre mit billigen Transistorradios, Schallplatten, Zeitschriften mit Großauflagen, mit dem Fernsehen und dem Film über die mediale Potenz, die kulturellen Hegemonialstrukturen zu modifizieren.“

Den Bürger als Sender seiner eigenen Interessen gab es demnach schon lange, bevor Enzensberger überhaupt ein entsprechendes Modell vorlegte. Zwar sendet der einzelne nichts, als dessen Schöpfer er sich bezeichnen dürfte. Aber in einem souveränen Akt stellt er sich aus dem immensen Angebot im Sinne der Popkultur ein Set von Musiksignalen zusammen, das er mit Hilfe seiner Stereoanlage allen anderen als eine Art Duftmarke mitteilt.

Im „Zeitalter des Narzißmus“ (so die mittlerweile geläufige Floskel des Soziologen Christopher Lasch) erhöht der moderne Bürger dadurch seine Attraktivität unter Gleichgesinnten – oder er sorgt dafür, daß der botschaftslose Small talk überflüssig wird. Und da es die Popkultur der sechziger Jahre war, die den Unterschied von „hoher“ und „niederer“ Kultur zu nivellieren suchte, nimmt es nicht wunder, wenn die heutige Musikberieselung aus einer populären Mischung – Vivaldi, Blasmusik und Heavy Metal – besteht.

Guy Debord, Theoretiker der „Situationistischen Internationale“, hat diesen Wandel seinerzeit mit dem Begriff von der „Gesellschaft des Spektakels“ auf den Punkt gebracht. 1968 kam er zu diesem Befund – mit der Absicht, dieser „spektakulären Gesellschaft“ zu schaden. Er beschrieb die Ästhetisierung des Alltags, ihre Festkultur und ihr Harmoniestreben – vor Jahrzehnten noch Merkmale einer privilegierten Lebensform. Bis in den Supermarkt hinein haben sich diese E- und U-Mischformen etabliert. Zum Leidwesen derjenigen, die in Sachen Musik so sensibel sind wie Hans Magnus Enzensberger.

Der Essayist, Lyriker und Herausgeber, der im kommenden Jahr siebzig Jahre wird, hatte seine Massenkritik vor vierzig Jahren noch mit dem Gestus des bedauernden Chronisten und Kritikers begonnen. Zehn Jahre später hatte er sich in Mitleid und Solidarität geübt und sich dem intellektuellen Helfersyndrom ergeben. Heute kann er sich nur noch mit Entsetzen über Erscheinungen der Massenkultur äußern – womit er im übrigen eine Tradition aufnimmt, die der englische Sprachwissenschaftler John Carey als gewichtiges Element der Intellektuellendiskurse bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein aufgezeigt hat: den „Haß auf die Massen“.

1970 weist Enzensberger im Kursbuch, der Fibel für melancholische Rebellen, dem „Autor“ als solchen einen Weg: als „Agent der Massen“ solle er im Sinne ihrer Emanzipation tätig sein, bis er sich als Spezialist überflüssig gemacht habe und in den Massen „verschwinden“ könne, wenn diese „selbst zu Autoren, zu Autoren der Geschichte geworden sind“. Heute muß er feststellen, daß die Massen zu lautstarken Autoren der Geschichte geworden sind und daß sich der Autor in der Tat überflüssig gemacht hat – allerdings nicht, weil die Massen endlich von ihm aufgeklärt worden wären, sondern weil er erkennen mußte, daß die Massen ihn auf ihrem Weg noch nie gebraucht haben.

Enzensberger reagierte auf diese Entwicklung gekränkt. Im letztjährigen Spiegel-Essay meinte er, daß es sich bei seinem durch die Musikberieselung hervorgerufenen „Vomitus“ (Brechreiz) keinesfalls um eine Form der Kulturkritik handele, sondern um einen „physiologischen Reflex“. Um einen Reflex also, der auf der Instinktebene passiert und intellektuell nicht beeinflußt werden kann. Hoffnung verspricht höchstens die Wissenschaft (“Hirnforschung und Elektronik“, früher hätte man sie die „technische Intelligenz“ genannt), die, wie Enzensberger prognostiziert, demnächst Hörgeräte entwickeln werde, mit denen per Knopfdruck absolute Stille im Kopf erzeugt werden könne.

1970 stellte sich das Verhältnis von Intelligenz und Masse gänzlich anders dar. Damals sprach Enzensberger von den „physiologisch verwurzelten“ Bedürfnissen der Masse, hinter die keine Theorie zurück könne, die aber mit Hilfe der literarischen Intelligenz im Kampf gegen die Bewußtseinsindustrie in die richtige Richtung gelenkt werden könne. Der Lauf der Geschichte, wie er sich in Enzensbergers Schriften abliest, legt die Vermutung nahe, daß sich nicht die Sensibilisierung durch die literarische Intelligenz als Königsweg erweist, sondern die Desensibilisierung durch die technische Intelligenz.

Die Enttäuschung, als einstiger Agent der Massen heute auf schmerzhafte Weise den Massen ausgeliefert zu sein, beruht auf zwei zentralen Verblendungen, denen sich in den Jahren um 1968 nicht wenige marxistisch denkende und nach Tätigkeitsfeldern suchende Intellektuelle gerne hingaben. Das war zum einen die schon erwähnte Idee, daß die Medien ein unmündiges Volk manipulierten.

Statt dessen sprechen heute viele Indizien dafür, daß die Medien zu einem großen Teil botschaftslos funktionieren. Enzensberger korrigiert sich diesbezüglich bereits 1988, wiederum im Spiegel: „Erst die visuellen Techniken [...] sind in der Lage, die Last der Sprache wirklich abzuwerfen und alles, was einst Programm, Bedeutung, ,Inhalt' hieß, zu liquidieren.“ Über die Rolle des Zuschauers fährt Enzensberger fort: „Weit davon entfernt, sich manipulieren zu lassen, manipuliert er das Medium, um seine Wünsche durchzusetzen [...] Das Nullmedium ist die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie.“

Nicht viel anderes wird man über die Funktion des allgegenwärtigen „Musikantenstadls“ sagen können. Hier gilt die Einsicht, daß die Kakophonie die angemessene Begleitmusik zu einer pluralistischen Massendemokratie ist – unangreifbar für jegliche Manipulationsversuche, da niemand zuhört.

Die zweite Fehleinschätzung ist fundamentaler. Alle Revolutions- und Emanzipationskonzepte der Jahre um 1968 gingen davon aus, daß man sich in einer Kultur des Logos befinde und innerhalb dieser Kultur auch die Veränderungen vorzunehmen seien. In einem kürzlich erschienenen Rückblick auf das Verhältnis von Frankfurter Schule und Studentenbewegung gibt der einstige SDS-Aktivist Bernd Leineweber seine Erinnerungen an die großspurigen Überlegungen der Außerparlamentarischen Opposition zur weiteren Entwicklung des Proletariers wieder: „Man mußte die neue, die klassenlose Gesellschaft herbeireden und –schreien, wenn man sie nicht herbeischießen wollte. Die Macht war ein gefährliches Spiel, das machte den Ernst der Aufgabe aus, die an der Last der Stellvertretung schwer trug. Sollte der Neue Mensch wie Adorno reden? Wie Krahl vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er überhaupt nur wenig reden. Immerhin wäre er ja mal hauptsächlich Proletarier gewesen.“

Folgt man Enzensbergers neuestem Essay, traf die letztere der Alternativen ein; der „Proletarier“ geriet offenbar im allgemeinen Herbeireden einer klassenlosen Gesellschaft nicht zu einem Mann des Worts. Seine Lebensphilosophie drückt er durch die spezifische Auswahl von Musikrichtungen und einzelnen Musiktiteln aus und nicht durch bestimmte Diskurse – was ja im Hinblick auf den Jargon der Adorno- Adepten auch ein Segen sein kann!

Damit würde sich eine kultursoziologische Vorhersage bestätigen, die – ebenfalls in den späten sechziger Jahren – aus Amerika kam und vom Beginn der „Kultur des Eros“ ausging. Begrifflichen Abstraktionen setzt diese Kultur Erfahrungen entgegen, die auf Bildern und Riten beruhen. Sie orientiert sich – gemäß Friedrich Nietzsches Unterscheidung – an Dionysos, den Gott des orgiastischen Kults, und nicht an Apollo und dessen Prinzipien von Recht und Ordnung.

Unter Literaturwissenschaftlern und Kulturanthropologen wie Susan Sontag, Leslie Fiedler oder Ihab Hassan war man sich einig, daß diese Kultur des Eros das Signum der Postmoderne werden würde – derjenigen Epoche also, in der die Grenzen zwischen „hoher“ und „niederer“ Kultur zugunsten der Massen aufgehoben würden.

Von solchen Thesen wollte man 1968 im Umkreis von Enzensberger natürlich nichts wissen. Jüngere deutsche Autoren standen der Kultur des Eros dagegen weitaus aufgeschlossener gegenüber. Sie öffneten sich bald dem amerikanischen Underground und seinen obszönen und musikalischen Mythen. Interessanterweise sind bei eben diesen jüngeren Autoren schon damals genau die Phänomene zu beobachten, die jetzt in Enzensbergers Haßtirade auf die Musikbeschallung zum Tragen kommen: Da ist zum einen das merkwürdige Zusammenspiel von Aggression und Sehnsucht nach Stille, des weiteren der geschichtsphilosophische Fatalismus und schließlich die Hinwendung zum Elitismus.

Als prägnantes Beispiel dieser jüngeren Autoren von 1968 sei Rolf Dieter Brinkmann genannt. In „Keiner weiß mehr“ aus dem Jahre 1968 halluziniert der Erzähler die atomare Verwüstung der ihm widerwärtigen Bundesrepublik und träumt von der dann einsetzenden absoluten Stille. Enzensberger phantasiert heute zwar keinen Atomblitz herbei, verrät aber seine Versuchung, mit Waffengewalt für Ruhe zu sorgen: „mit der Kalaschnikow auf jeden erkennbaren Lautsprecher zu schießen“, habe er sich schon überlegt. Nur durch „die Einsicht, daß dies den Lärmpegel weiter erhöhen würde“, sei er von diesem Schritt bisher zurückgehalten worden.

In einer Rezension des Buchs „Nova Express“ von William S. Burroughs bezeichnet Brinkmann 1971 die Fähigkeit zur Stille als einen Beginn von Widerstand; mit dem „üblichen Zustand einer Erschlaffung“ habe sie nichts gemein. Er versteht die Stille als Befreiung aus dem Gefängnis der Massenmedien und vom „Agitationszirkus auf der Straße“. Einen Befehl, der in „Nova Express“ immer wieder ausgesprochen wird, macht Brinkmann zur Parole: „Laßt den Stille-Virus frei!“

Anderthalb Jahre später hält sich der Kölner Poet in Italien auf. In Olevano, dem Romantikerstädtchen in der Nähe Roms, notiert er zu Weihnachten 1972, wie sehr er die dortige Stille genießt. Bei einem Spaziergang durch den Ort muß er jedoch feststellen, daß die Atmosphäre der Harmonie trügt: Die Gespräche, die durch die Fenster nach außen dringen, sind keine Äußerungen eines unverdorbenen menschlichen Miteinanders, sondern die unauthentischen Geräusche der Fernsehgeräte. Die vermeintlich poetische Stille ist durchtränkt vom Lärm der Medien.

Anders als Enzensberger verzichtet Brinkmann aber schon damals darauf, die Lage als veränderbar einzuschätzen. In „Rom, Blicke“ heißt es: „Je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne.“ Sein Hausheiliger ist Giordano Bruno: „Immer auf der Seite Einzelner, nicht der Vielen“.

Die Stille als Widerstand, als Alternative für den einzelnen, den Sensiblen, scheint es nicht mehr zu geben. Bei Brinkmann ist 1972 selbst der Rückzugsort schlechthin, Olevano, kein Ort echter Stille mehr, bei Enzensberger sind 1997 Umzüge „sinnlos, da inzwischen auch dünnbesiedelte Gebiete lückenlos mit Schallaggregaten ausgerüstet sind“. Als in Enzensbergers „Untergang der Titanic“, erschienen 1978, ein Eisberg das Schiff der Utopien aufschlitzt und sich der Erzähler alsbald im Wasser zwischen leeren und herrenlosen Koffern wiederfindet, da herrscht eine Stille, wie sie in der Apokalypse kurze Zeit vor dem eigentlichen Weltuntergang beschrieben wird.

„Alles unter Kontrolle“, sagt sich der Erzähler ironisch angesichts seines Schicksals, „schwer zu sagen, warum, heule und schwimme ich weiter.“ 1997 ist an Stille nicht mehr zu denken, jetzt erschallen allenthalben die Posaunen, und die Qualen setzen ein. Diesmal beendet Enzensberger seinen Text mit den Worten: „werde ich weiter kotzen müssen“.

Der ostdeutsche Schriftsteller Heiner Müller, auch er ein Sachverständiger für untergegangene Utopien und ebenso ein Kenner von entsprechenden Ekelgefühlen – „Mein Ekel ist ein Privileg“, läßt er den Hamletdarsteller in der „Hamletmaschine“ sagen –, hat nach der Wiedervereinigung ein Gedicht geschrieben, als sich abzeichnete, daß es zum Kapitalismus keine Alternative mehr geben würde. „Musik wird hoch gehandelt im Niedergang / Wenn alles gesagt ist werden die Stimmen süß“, heißt es an zentraler Stelle in „Mommsens Block“, einem Poem über die Unerträglichkeit, den Niedergang beschreiben zu müssen. Am Ende kann Müller seinen Widerwillen überwinden. Beim Essen in einem Nobelrestaurant sitzend, beobachtet sein lyrisches Ich die „Helden der Neuzeit“, „Wechsler und Händler“, „Lemuren des Kapitals“.

Man fragt sich, warum dieser Beobachter sich ausgerechnet in einem Nobelrestaurant aufhält. Bei Enzensberger findet sich 1997 die kongeniale Antwort: „Restaurants ohne Musik kosten das Doppelte“.

Wäre Müller nicht schon gestorben, dann könnte er sich mit Enzensberger in die Stille einer solchen Speisestätte zurückziehen und die Segnungen des Kapitals genießen, während draußen die Lemuren und Brüllaffen – zwei eng miteinander verwandte Tierarten – dem Wohlstand auf ihre Weise frönten und zu den Rhythmen der Fünfhundert-Watt-Anlagen tobten.

Am Fenster sitzend, könnten sich diese beiden Intellektuellen einander versichern, daß sie sich schon immer für die letzten Exemplare einer vom Aussterben bedrohten Spezies gehalten haben: für Menschen.

Roman Luckscheiter, 28 Jahre, ist Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Kürzlich veröffentlichte er als Mitautor den Katalog zur Ausstellung Protest! – Literatur um 1968 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Seinen Text entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der aktuellen Ausgabe des Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998, 19 Mark.

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